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Kühlung von AKW könnte bedroht seinDiese Folgen drohen nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms

Lesezeit 7 Minuten
6. Juni 2023, Ukraine, Cherson: Eine Anwohnerin bahnt sich einen Weg durch eine überflutete Straße.

Eine Anwohnerin bahnt sich in Cherson einen Weg durch eine überflutete Straße. Die humanitären, ökologischen und militärischen Folgen des gesprengten Kachowka-Staudamms sind noch nicht absehbar.

Tausende Menschen müssen evakuiert werden, Experten warnen vor einer „Umweltkatastrophe“, auch die Folgen für die Krim könnten fatal sein.

Welche Folgen die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Region Cherson tatsächlich haben wird, lässt sich nach der schweren Explosion am Staudamm kaum absehen. Fest steht: Milliarden Kubikmeter Wasser strömen nun in die Region am Dnipro, sie bedrohen Tausende Menschen.

Informationen zu möglichen Verletzten gab es zunächst nicht. „Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstag. Nach ukrainischen Angaben hatte nachts gegen 2.50 Uhr Ortszeit (1.50 Uhr MESZ) eine Explosion den 1955/56 gebauten Staudamm und ein angrenzendes Wasserkraftwerk zerstört.

Der Kachowka-Stausee und der Fluss Dnipro bildeten seit dem vergangenen Herbst die Frontlinie im Gebiet Cherson. Das Südufer wird von russischen Truppen beherrscht, das nördliche Ufer mit der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson nach der Rückeroberung wieder von den Ukrainern.

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Welche Folgen hat die Explosion am Kachowka-Staudamm in der Region Cherson für die Einwohner?

Behördenangaben zufolge leben rund 16.000 Menschen in der durch Überschwemmungen bedrohten Region. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von einer Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Olexander Prokudin, Militärgouverneur des Gebiets, berichtete von zunächst acht Ortschaften, die ganz oder teilweise unter Wasser stehen. Angaben über Tote oder Verletzte gab es zunächst nicht. Prokudin erwartet ebenfalls schwerwiegende Folgen für die Bevölkerung. „Auf einem riesigen Territorium wird alles Leben zerstört“, schrieb Podoljak. 

In ukrainischen Medien und in sozialen Netzwerken wurden Videos geteilt, in denen die gestiegenen Wasserstände um die Stadt Cherson zu sehen sind. Auch Luftaufnahmen zeigten, dass dort im Stadtteil Korabel von vielen eingeschossigen Häusern nur noch das Dach aus dem Wasser ragte. Zur Lage am flachen Südufer in russischer Hand gab es kaum Informationen. In Nowa Kachowka dicht an der Staumauer berichtete die russische Verwaltung von Überschwemmungen.

Der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk hat bereits im vergangenen Oktober laut eines Berichts des RedaktionsNetzwerkes Deutschland (RND) vor verheerenden Folgen einer Sprengung des Staudamms und einer „humanitären und technologischen Katastrophe“ gewarnt. Der russische Oppositionelle und Hydrogeologe Yuri Medovar erklärte gegenüber dem ukrainischen Internetportal „Obozrevatel“, dass eine Sprengung der Staumauer katastrophale Folgen „wie nach einem Tsunami“ hätte.

Evakuierungen auf ukrainischer Seite – Erhebliche Probleme für die Wasserversorgung auf der Krim

Das ukrainische Militär begann am nördlichen Ufer des Flusses Dnipro – wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt – mit Evakuierungen. 17.000 Anwohnende müsste von dort gerettet werden, sagte die stellvertretende Generalstaatsanwältin der Ukraine, Viktoria Lytwynowa, am Dienstag im Fernsehen. Rund 1300 Menschen hatten ihre Häuser laut ukrainischen Angaben bis zum Nachmittag verlassen.

Weitere rund 25.000 Menschen seien auf der von Russland besetzten südlichen Flussseite in Gefahr, hieß es zudem aus Kiew. Über ihr Schicksal war zunächst wenig bekannt. Laut Medienberichten vom Vormittag sahen die russischen Besatzer auf der südlichen Seite des Flusses dazu noch keine Veranlassung.

Neben den kurzfristig verheerenden Folgen könnte die Explosion am Staudamm allerdings auch langfristig fatale Folgen für die Zivilbevölkerung haben. Experten befürchten, dass die Wasserversorgung insbesondere auf der Krim für lange Zeit ein großes Problem darstellen werde. 

Osteuropa-Experte Sergej Sumlenny twitterte, dass „für Jahre keine Wasserversorgung der Krim möglich“ sei. Er schlussfolgerte, dass die Russen mit der mutmaßlich von ihrer Seite herbeigeführten Zerstörung des Staudamms sowie des Kraftwerks ihren baldigen Rückzug von der Krim akzeptiert hätten. 

Der russische Besatzungschef von Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, räumte ebenfalls ein, dass es zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte, südlich von Cherson. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert.

Folgen für die Natur: Militärgouverneur spricht von „Umweltkatastrophe“

Die Zerstörung des Damms wird auch auf die Natur großen Einfluss haben. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte vor einer „Umweltkatastrophe“. Nach ukrainischen Angaben seien bereits 150 Tonnen Motoröl in den Fluss Dnipro geflossen. In den Online-Netzwerken warnte die Presseberaterin des Chefs des ukrainischen Präsidialamtes, Daria Sariwna, vor einer Gefährdung der Umwelt. „Es besteht auch die Gefahr neuer Öllecks, die sich negativ auf die Umwelt auswirken“, erklärte sie auf Telegram. Folgen werden auch für das AKW Saporischschja befürchtet.

Experten warnen: Wasserstand für AKW-Kühlung sinkt kontinuierlich 

Das Atomkraftwerk, das sich seit März 2022 unter russischer Kontrolle befindet, entnimmt Kühlwasser für seine Anlagen aus dem See am Fluss Dnipro. Wenn hier der Wasserstand rapide sinkt, könnte dies zu Problemen führen.

In „ein paar Tagen“ könne der Pegel des Stausees so niedrig sein, dass das Wasser nicht mehr zum Kraftwerk gepumpt werden könnte, sagte Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA, am Dienstag.

Derzeit sinke der Wasserstand um etwa fünf Zentimeter pro Stunde. Am frühen Dienstagmorgen betrug der Wasserstand noch 16,4 Meter – fällt er unter 12,7 Meter, könne das Wasser zur Kühlung des Kraftwerkes nicht mehr abgepumpt werden. Dies könne laut Grossi in „ein paar Tagen“ passieren.

Momentan arbeite das AKW-Personal daran, „so viel Wasser wie möglich in die Kühlkanäle und die zugehörigen Systeme zu pumpen“, so IAEA-Chef Grossi. Die Zufuhr von Wasser für „nicht essenziellen“ Verbrauch sei derweil gestoppt worden.

Die IAEA möchte prüfen, ob ein nahegelegener Kühlteich geeignet sei, um für ein paar Monate Wasser zur Kühlung zu liefern. Denn die Reaktoren des AKW Saporischschja wurden abgeschaltet. Allerdings muss der Brennstoff in den Reaktorkernen und Lagerbecken ständig gekühlt werden, um eine Kernschmelze und die Freisetzung radioaktiver Strahlung in die Umwelt zu verhindern.

Zuvor hieß es seitens der IAEA, dass kein „unmittelbares nukleares Risiko“ bestehe. Die ukrainische Regierung spricht von einer „rapide wachsenden Gefahr“: „Die Welt befindet sich wieder einmal am Rande einer nuklearen Katastrophe“, erklärte Präsidentenberater Michailo Podoljak. Von russischer Seite wurde derweil vermeldet, dass der zerstörte Staudamm keine Bedrohung für das AKW darstelle. Juri Tschernitschuk, von Russland eingesetzter Leiter der Anlage, erklärte auf Telegram, dass sich der Wasserstand im Kühlbecken nicht verändert habe. 

Nach Einschätzung des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) stelle der zerstörte Staudamm für das Atomkraftwerk Saporischschja „keine unmittelbare Gefahr“ dar. Das teilte eine Sprecherin des BfS am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur mit. Das Atomkraftwerk sei nicht von Überschwemmungen betroffen, weil es flussaufwärts am Dnipro liege. Darüber hinaus sei das Kühlbecken des Atomkraftwerks „nicht vom abrupten Absenken des Wasserstandes bedroht“.

Ukrainisches Militär will sich durch Überflutung nicht bremsen lassen

Auch militärisch hat die Explosion am Staudamm Folgen. Kanzler Olaf Scholz bezeichnete die Zerstörung des Staudamms gar als „neue Dimension“ des Ukraine-Kriegs. Durch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms wollen sich die ukrainischen Streitkräfte jedoch nach eigenen Angaben nicht von der Rückeroberung russisch besetzter Gebiete abhalten lassen.

Die Ukraine verfüge über „alle notwendigen Boote und Pontonbrücken, um Wasserhindernisse zu überwinden“, hieß es in einer Mitteilung der Abteilung für strategische Kommunikation vom Dienstag. Die russischen Besatzer hätten den Staudamm im Süden der Ukraine „aus Angst vor der ukrainischen Armee“ gesprengt, schrieb das Militär auf Telegram. Die russischen Truppen könnten den professionell ausgebildeten und mit neuesten Waffen ausgestatteten Ukrainern nicht standhalten, hieß es weiter. In der Ukraine wird eine großangelegte eigene Offensive erwartet, deren Zeitplan und genaue Stoßrichtung nicht bekannt ist.

Im Süden könnte die Flutwelle aus dem Stausee den Unterlauf des Flusses Dnipro nahezu unpassierbar machen, deshalb sind die militärischen Folgen der Sprengung nicht abzusehen. „Die Ukraine ist bereit, die von der russischen Aggression befreiten Gebiete wiederherzustellen und wiederaufzubauen“, hieß es in der Militär-Mitteilung weiter.

Kiew und Moskau beschuldigten sich am Dienstag gegenseitig, für die Sprengung verantwortlich zu sein. Spekuliert wurde, dass der Vorfall ein russischer Sabotageakt sein könnte, um eine ukrainische Gegenoffensive auszubremsen. Russland führt seit mehr als 15 Monaten einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland.

Russland hatte das Nachbarland Ukraine im Februar vergangenen Jahres überfallen und dann auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee die Befreiung eines Teils der Region – auch der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka. (mit dpa und AFP)

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