Das Europaparlament vergibt seinen Sacharow-Preis für Menschenrechte an einen in Belarus inhaftierten Journalisten. Wie steht es um die Presse- und Meinungsfreiheit in dem Land? Eine Kölner Medienwissenschaftlerin erklärt die Situation.
Kölner Medienwissenschaftlerin„Sacharow-Preis fühlt sich an wie ein Grabstein“

Die belarussische Oppositionsführerin Svetlana Tichanowskaja zeigte im EU-Parlament ein Foto des inhaftierten Journalisten Andrzej Poczobut.
Copyright: Frederick Florin/AFP/dpa
Die Kölner Journalismus-Professorin Katja Artsiomenka, die selbst aus Belarus stammt, erklärt im Interview mit Frank Überall, wie es um die Grundrechte der Presse- und Meinungsfreiheit in ihrer Heimat steht.
Bei der Entscheidung, den Sacharow-Preis für Menschenrechte an den belarussischen Journalisten Andrzej Poczobut zu verleihen, hieß es, er sei wegen falscher Beschuldigungen inhaftiert. Ist der Fall symptomatisch für Belarus?
Wie vielen anderen Journalistinnen und Journalisten werden ihm Delikte wie Gefährdung der Staatssicherheit oder Volksverhetzung vorgeworfen. Das sind durchweg keine legitimen Beschuldigungen, denn in Belarus darf einfach gar nichts mehr berichtet werden, was nicht im Sinne der Regierung ist oder wodurch sich Machthaber Lukaschenko in seiner Arbeit gefährdet fühlt. Andrzej Poczobut ist seit 2021 im Gefängnis. Von Seiten der Staatssicherheit ist oft versucht worden, ihn dazu zu bringen, eine Begnadigung zu beantragen. Das hat er permanent und konsequent verweigert. Er ist davon überzeugt, dass er sich nichts hat zuschulden kommen lassen und will ein Signal nach außen senden, dass das international anerkannte Grundrecht auf Pressefreiheit nicht zur Disposition gestellt werden darf: Auch wenn der Preis dafür ist, dass er in Haft bleiben muss.
Für uns in Deutschland und Europa ist es schwer vorstellbar, wenn journalistische Arbeit zur Bestrafung führen kann. Wie sieht das konkret aus?
Wenn man zum Beispiel ein Bild von öffentlichen Protesten veröffentlicht, reicht das schon aus, um ins Gefängnis zu kommen. Zwei Journalistinnen sind beispielsweise festgenommen und inhaftiert worden, weil sie über eine Kundgebung berichtet haben. Sie hatten also einfach ihren Job gemacht.
Gibt es in Belarus überhaupt noch unabhängigen Journalismus?
Nein. Alle Redaktionen, die einst unabhängig berichtet haben, sind geschlossen worden. Die Journalistinnen und Journalisten sind entweder im Gefängnis oder im Exil. Manche berichten aus dem Ausland über Belarus. Viele von ihnen machen das unter Pseudonymen, weil sie ihre Verwandten in Belarus nicht gefährden wollen. Medien, die unabhängige Berichte verbreiten, gelten in Belarus als extremistische Organisationen. Das gilt auch für die belarussische Redaktion der Deutschen Welle.
Warum haben die Medienschaffenden im Exil Angst vor einer Bedrohung ihrer Verwandten in Belarus?
Ihre Familien oder Verwandten, die noch in dem Land leben, müssen mindestens mit Einschüchterungen rechnen. Die Staatssicherheit stattet ihnen Besuche ab und führt seltsame Gespräche mit ihnen oder führt Durchsuchungen durch. Oft wird verlangt, dass sich Mütter oder Väter von ihren Kindern distanzieren und einräumen sollen, dass diese etwas Illegales machen, also Straftaten begehen – nur weil sie journalistisch berichten. Manchmal werden die Angehörigen sogar nachdrücklich aufgefordert, Geständnis-Videos aufzunehmen müssen. Weigern sich die Verwandten, sich von ihren Kindern loszusagen, laufen sie Gefahr, verhaftet zu werden. Solche Beispiele gibt es auch.
Auch die Meinungsfreiheit in der Gesellschaft in Belarus steht unter massivem Druck?
Das ist so, auch wenn das im Detail kaum noch nachvollziehbar ist. Es gibt keine ausländischen Korrespondentinnen und Korrespondenten mehr in Belarus. Insofern kann man schwer beurteilen, was überhaupt dort noch möglich ist. Internetverbindungen sind sehr instabil, und durch die staatliche Zensur haben die Menschen große Schwierigkeiten, überhaupt an Informationen zu kommen. Wir beobachten aber auch, dass Exil-Medien durchaus genutzt werden. Durch die Kriminalisierung des Journalismus ist es aber unheimlich schwierig, sich auf der Basis von Fakten zu informieren, sodass man sich überhaupt eine abgewogene Meinung bilden kann.
Wer das versucht, bringt sich in Gefahr?
Ja, auch die Menschen, die unabhängige Medien konsumieren wollen, begehen aus der Sicht des Staates Belarus ein Verbrechen. Wer sich beispielsweise Inhalte der Deutschen Welle anschaut, macht sich damit strafbar. Viele machen es dennoch. Sie begeben sich in Gefahr, nur weil sie Informationen rezipieren.
Diese Gefahr kann im Zweifel Inhaftierung bedeuten, und damit womöglich auch Misshandlung und Folter?
In der Tat. Wer sich unabhängig informiert oder gar Interviews gibt, dem wird vorgeworfen, er unterstütze eine extremistische Organisation. Journalistische Arbeit ist Extremismus in Belarus. Misshandlung und Folter gibt es in Belarus leider häufig. Tausende Fälle solcher Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind dokumentiert, allein seit 2020 sind neun Menschen in Gefängnissen gestorben. Man muss aber auch damit rechnen, deportiert zu werden.
Was bedeutet das konkret?
Wenn wie im September international berichtet wird, dass aufgrund eines Deals mit den USA mehr als 40 politische Gefangene freigelassen wurden, stimmt das nur bedingt. Meist werden diese Menschen überraschend aus ihren Zellen geholt, ihnen werden Säcke über den Kopf gezogen und sie werden ohne jedes Ausweisdokument an die Grenze zu Litauen transportiert. Sie sind dann zutiefst verstört und ohne Pass, sie haben keine Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukommen. Der Ehemann der im Exil lebenden Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja beispielsweise hatte fünf Jahre in Isolationshaft gesessen. Nach seiner sogenannten Freilassung hat er darüber berichtet, dass er keine Informationen aus der Welt draußen bekommen hatte. Er bekam nicht einmal Stift und Papier, um etwas aufzuschreiben. Bei einer Pressekonferenz hat er geweint, weil die Zeit für ihn so furchtbar war. Das Schlimme ist, dass wir zu vielen Inhaftierten keine Informationen bekommen.
Im Exil engagieren sich viele Menschen aus Belarus gegen das Regime. Das Rheinland ist dabei ein Schwerpunkt?
Neben einer großen Community in Berlin ist Nordrhein-Westfalen definitiv ein Schwerpunkt. In Köln oder Düsseldorf gab es in den vergangenen Jahren auch immer wieder Kundgebungen. Aber das ist ein Kampf gegen Windmühlen, weil der Protest hier in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird.
Es hat jüngst eine Militärübung von Belarus gemeinsam mit Russland gegeben. Wird das Land auch für uns zur zunehmenden Bedrohung?
Der russische Präsident Putin hat Belarus bereits bei seinem Angriff auf die Ukraine als Aufmarschgebiet genutzt. Es gibt sogar den Verdacht, dass er dort Atomwaffen stationiert hat und dass Drohnen etwa über Litauen aus Belarus gestartet sind. Für Putin ist Belarus eine Art Pufferzone zwischen Europa und Russland. Deshalb geht von dem Land natürlich eine Gefahr für uns in Europa aus.
Sie kommen selbst aus Belarus, haben Ihre Heimat verlassen. Wie gehen Sie mit Informationen über die Situation dort persönlich um?
Es bestimmt mein ganzes Dasein. Man kann einer Diktatur offenbar nicht entfliehen. Auch in Deutschland sind die Belarussinnen und Belarussen nicht sicher. Ich habe mir in dieser Woche die Live-Übertragung aus dem Europäischen Parlament angeschaut, bei der die Vergabe des Sacharow-Preises bekanntgegeben wurde. Da ist auch Swetlana Tichanowskaja mit ihrem Mann aufgetreten und hat die europäischen Politiker vor dem undemokratischen Regime und dem Diktator Lukaschenko gewarnt. Davor fand im Parlament auch eine Diskussion zu Belarus statt. Da gab es viele gute Statements, manches hat mich aber auch zur Verzweiflung getrieben.
Warum?
Ein Abgeordneter der AfD hat die Zustände in Deutschland mit denen in Belarus verglichen. Er hat behauptet, Lukaschenko sei ein ordentlich gewählter Präsident. Damit verneinte er den internationalen Konsens, dass die Wahlen in Belarus manipuliert wurden. Und er meinte zugleich, dass Deutschland auf dem Weg in eine Unfreiheit wie in Belarus sei. Das ist eine menschenverachtende Widersprüchlichkeit. Da beobachte ich einen Verlust der Werte, was Menschenwürde und Demokratie angeht.
Wird die Verleihung des Sacharow-Preises etwas in Belarus bewirken?
Es ist besser als gar nichts. Man muss dankbar sein für jede Thematisierung der unmenschlichen Situation in Belarus. Aber der Preis fühlt sich für mich wie ein Grabstein an. Auch bei dem ist es zwar gut, dass es ihn gibt, denn ein Grabstein hat eine Erinnerungsfunktion, und das ist besser als ein Massengrab, bei dem man gar nicht weiß, wer da alles begraben ist. Aber zugleich ist es eine Manifestation der Hilf- und Machtlosigkeit und richtet den Blick auf die fehlende politische Unterstützung. In Deutschland bekommen sehr wenige Menschen aus Belarus Asyl oder humanitäre Visa. Die Menschen in ihrer Not werden allein gelassen. Auszeichnungen sind gut, tatsächliche Unterstützung durch konkrete Taten wäre besser.

