Krieg in der UkraineBachmut hält – doch ist es das wert?

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Wladyslaw, ein ukrainischer Fallschirmjäger der 80. Luftlandebrigade, ruht in einem Unterstand an der Front in der Nähe von Bachmut.

Kurze Pause im Gemetzel: Ein ukrainischer Fallschirmjäger ruht sich in einem Unterstand an der Front in der Nähe von Bachmut aus.

Der verlustreiche Kampf um die Kleinstadt Bachmut verschafft der Ukraine vor allem eines: Zeit. Ein Blick auf die aktuelle Lage von der Front im ukrainischen Donbass-Gebiet.

„Bakhmut holds“, diesen Schriftzug verbreitet der pro-ukrainische Twitter-Account War Monitor 3 mindestens einmal am Tag. Der Autor beschreibt die „brutalen“ Kämpfe vor allem im Norden der Stadt, aber: „Bakhmut holds“, Bachmut hält. Doch ist es klug für die ukrainischen Truppen, hier auszuhalten und sogar Verstärkungen in den „Fleischwolf“ zu schicken, wie Bachmut längst auf beiden Seiten der Front heißt?

Was sagt die ukrainische Führung zur Lage?

„Wir halten die Stadt, aber um welchen Preis?“, zitiert die US-Zeitung „Christian Science Monitor“ den Soldaten Mykailo von der 77. ukrainischen Brigade: „Die Verluste sind groß. Wenn wir die Stadt halten, wer wird dort noch sein? Hunde?“ Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj aber will Bachmut halten, er kündigte am Freitag neue Verstärkungen an und hatte zuvor im US-Sender CNN seine Entscheidung verteidigt. „Alle sagen, dass wir in Bachmut stark bleiben müssen“, meinte er – wohl als Reaktion über Berichte, seine eigene Militärführung um Generalstabschef Walerij Saluschnyj sei anderer Meinung.

Westliche Politiker legen der Ukraine kaum verhohlen einen Abzug nahe. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte, Bachmut sei für die Ukraine eher symbolisch als strategisch wichtig, und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte, ein Rückzug der Ukraine aus der Stadt wäre „kein Wendepunkt“. Solchen Beruhigungsversuchen kann Selenskyj wenig abgewinnen: Nach einem Fall von Bachmut hätten die russischen Truppen „freie Bahn in andere ukrainische Städte“, warnte er bei CNN.

Wie wichtig ist Bachmut für die Ukraine wirklich?

Bachmut – ein strategisch eher unbedeutender Ort oder Trutzburg der freien Ukraine? Das US-amerikanische Institute for the Study of War meinte vor einigen Tagen, für Russland sei die Eroberung von Bachmut eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Besetzung des restlichen Donbass, die der russische Präsident Wladimir Putin seinen Militärs wohl als Minimalziel vorgegeben hat. Das klingt wie ein Satz aus einem Grundlagenseminar in mathematischer Logik, erklärt aber, warum Russland in Bachmut besonders brutal und ohne Rücksicht auf eigene Verluste vorgeht.

Die Stadt ist ein nur regional bedeutender Straßenknoten, zudem Station an einer derzeit wegen des Krieges nicht nutzbaren Nord-Süd-Bahnstrecke, aber es hat bisher weitere Vorstöße der russischen Truppen blockiert. Mittlerweile haben sie Bachmut aber bereits im Süden und im Norden umgangen und versuchen, nach Norden über die an der Stadt vorbeiführende E40 in Richtung Slowjansk und Kramatorsk vorzustoßen (gut 45 Kilometer) und nach Westen in die Nachbarstadt Tschassiw Jar. Wie wichtig ist da noch der Knoten Bachmut selbst?

Was wird aus der Frühjahrsoffensive?

Westliche Militärs und Analysten argumentieren sozusagen aus der Vogelperspektive, mit Blick auf Generalstabskarten, und so würde Bachmut allenfalls dann strategisch wichtig, wenn die russischen Truppen auch Isjum im Bezirk Charkiw in ihren Besitz brächten. Dann könnten sie einen Zangenangriff auf das noch ukrainisch gehaltene Gebiet versuchen. Davon sind sie jedoch himmelweit entfernt. Und wenn man bedenkt, dass die Schlacht um Bachmut bereits mindestens zwei, je nach Rechnung auch vier Monate länger dauert als die von Stalingrad, ist kaum vorstellbar, dass Russland etwa bei Slowjansk (wo die Ukraine laut Blogger „Noël“ schon transportable Bunker aufstellt) oder bei Tschassiw Jar mehr Erfolg haben würde.

Die Ukraine, das meinte US-Verteidigungsminister Austin wohl, sollte deshalb besser nicht an Bachmut, sondern an ihre geplante Frühjahrsoffensive denken und ihre Kräfte dafür schonen. Gerade weil Putin wohl auf einen jahrelangen Zermürbungskrieg setzt, ist diese Offensive von zentraler Bedeutung, um ein für alle Mal russische Logistikrouten zu unterbrechen, vor allem die Zuwege zur Krim. Das wäre tatsächlich ein strategischer Durchbruch, der die ukrainische Ausgangslage im zu erwartenden Abnutzungskampf dramatisch verbessern würde. Was ist dagegen Bachmut?

Selenskyj dagegen blickt auf das, was sich konkret in den betroffenen Städten tut: An Bachmut ist ja zu sehen, was eine russische Belagerung bedeutet. Sollen weitere ukrainische Ortschaften zu Frontstädten werden, die die russische Artillerie dann weitgehend niederlegt? Auch wenn Bachmut irgendwann fallen könnte – je länger die ukrainische Armee aushält, desto besser sind andere Städte geschützt. Selenskyj hat schon früher gesagt, man wolle hier Zeit gewinnen – Zeit, bis die versprochenen westlichen Panzer da sind. Letztlich Zeit bis zur großen Offensive.

Wie hoch sind die Verluste?

Noch ein Grund spricht für die ukrainische Führung dagegen, sich aus Bachmut auf leichter zu verteidigende Linien zurückzuziehen. Nach ukrainischen Angaben sind die russischen Verluste fünfmal (das sagte Analyst Serhij Grabsky vor zwei Monaten), wenn nicht siebenmal (das behauptete Olexij Danilow, der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Anfang März) so hoch wie die eigenen. Auch ein hochrangiger Nato-Vertreter, der namentlich nicht genannt werden wollte, meinte – gestützt auf Geheimdiensterkenntnisse –, auf einen gefallenen Ukrainer kämen fünf gefallene Russen.

Eine grausame Kalkulation, zu der aber zu sagen ist: Kein russischer Soldat müsste mehr sterben, wenn Moskau den Eroberungskrieg gegen das Nachbarland beenden würde. Stattdessen kommt es zu Szenen, über die der ukrainische Leutnant Jurij Andrijaschenko dem „Christian Science Monitor“ berichtete: „Ich habe noch nie so viele Leute geradewegs in die Kugeln hineinmarschieren sehen … Ich war in keiner Weise darauf vorbereitet, so etwas zu sehen.“

Absolute Zahlen über die eigenen Verluste halten beide Seiten geheim. Ukrainische Angaben über angebliche russische Verluste lassen aber immerhin einen indirekten Rückschluss auf die eigenen zu, wenn die genannten Zahlenverhältnisse stimmen. Allein am 10. März etwa will die ukrainische Armee bei Bachmut 221 Angreifer getötet und 314 verwundet haben. Ähnlich hohe Zahlen verbreitete sie auch für frühere Tage.

Schon Anfang März kursierte in sozialen Netzwerken andererseits die Videobotschaft eines anonymen Soldaten in ukrainischer Uniform, der sagte, man verliere in Bachmut pro Woche ein Bataillon, also eine hohe dreistellige Zahl von Soldaten. Das alles lässt sich nicht unabhängig prüfen, passt aber durchaus zusammen: Hundert ukrainische, aber Tausende russische Gefallene und Verwundete pro Woche.

Während auf russischer Seite um den Jahreswechsel noch in großer Zahl Ex-Sträflinge an die Front kamen, die von der Söldnergruppe Wagner rekrutiert worden waren, sind jetzt verstärkt Fallschirmjäger der regulären Armee im Einsatz, zudem gut ausgebildete Söldner der Wagner- Stammtruppe, auch wenn es widersprüchliche Informationen über deren Aktivität gibt. Solche Kämpfer lassen sich nicht einfach durch frisch eingezogene Reservisten ersetzen.

Wie lange geht Kiews Kalkulation auf?

„Ich hoffe wirklich, wirklich, wirklich, dass die ukrainische Militärführung weiß, was sie in Bachmut tut“, twitterte der bestens vernetzte ukrainische Militärjournalist Illa Ponomarenko. Die Viertel östlich des Flusses Bachmutka hat sie immerhin geräumt. Die versprochenen Verstärkungen kommen aber offensichtlich nur dosiert an: Die vielen hundert bei Nato-Armeen frisch ausgebildeten Soldaten, die Woche für Woche in die Ukraine zurückkehren, scheinen nicht nach Bachmut zu gelangen. Der legendäre ukrainische Artilleriekommandeur „Madjar“ erhielt nach eigenen Angaben am 2. März den Befehl zum Abzug aus Bachmut.

So zynisch es klingt, die Ukraine folgt damit durchaus der westlichen Empfehlung, ihre Kräfte für die große Offensive zurückzuhalten, von der die Führung in Kiew inzwischen auffällig oft spricht. Um Bachmut trotzdem nicht aufgeben zu müssen, begeht sie offenbar einen auch im eigenen Land umstrittenen Weg. So veröffentlichte das ukrainische Portal censor.net den Bericht des „Chmobiks“ (mobilisierten Reservisten) Danilo Butenko, der mit einer Gruppe von Kameraden nach einem gerade einmal fünftätigen Crashkurs an die Front bei Bachmut geschickt wurde – Darstellungen, wie es sie früher nur von russischen Reservisten gab.

Der „Kyiv Independent“ berichtet über Gespräch mit einem Dutzend Soldaten in Bachmut, denen es ähnlich ging. Sie erzählten von „unvorbereiteten, kaum trainierten Bataillonen, die an die Front in den Fleischwolf geschickt werden, um so gut wie möglich durchzukommen“. Durchzukommen im besten Fall, bis dann wirklich die Frühjahrsoffensive Entlastung bringt.


Zwei Opfer des „Fleischwolfs“

Der Tod zweier Soldaten hat die ukrainische Öffentlichkeit in der vergangenen Woche tief bewegt. Am Freitag nahmen Tausende Ukrainer auf dem Maidan in Kiew Abschied von dem Bataillonskommandeur Dmytro Kozjubailo, Kampfname: „da Vinci“, der bei Bachmut gefallen war. Generalstabschef Walerij Saluschnyj kniete vor dem Sarg nieder, auch Präsident Wolodymyr Selenskyj und die finnische Premierministerin Sanna Marin nahmen an der Zeremonie teil. Bereits am Montag hatte ein von russischen Propagandakanälen verbreitetes Video für Entsetzen gesorgt. Es zeigt die Erschießung eines gefangenen ukrainischen Soldaten. Der unbewaffnete Mann ruft seinen Bewachern „Slawa Ukrajinij“, „Ruhm der Ukraine“, entgegen und wird dann vor laufender Kamera ermordet. Kiew gibt seinen Namen mit Oleksandr Matsievsky an.

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