Kann die Ukraine diesen Krieg überhaupt noch gewinnen? Äußerungen des ukrainischen Generalstabschefs Walerij Saluschnyj scheinen daran Zweifel zu wecken. Was will der Vier-Sterne-General?
„Magyars Vögel“ gegen die russischen BesatzerWas will der ukrainische Generalstabschef Saluschnyj?

Walerij Saluschnyj, Generalstabschef der Ukraine, hier bei einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des russischen Überfalls im Februar 2024.
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Der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj suche den Durbruch — und er gebe zu, dass der Krieg ein Patt erreicht habe. Das schrieb die britische Zeitschrift „Economist“ letzte Woche über ein von ihr geführtes Interview mit dem Vier-Sterne-General.
Hat sich der Krieg in der Ukraine festgefressen?
Kurz danach bestritt Präsident Wolodymyr Selenskyj die Erzählung vom Patt. Widersprechen also die beiden wichtigsten Exponenten der Ukraine einander? Weigert sich Selenskyj, aus einer Patt-Situation die Konsequenzen zu ziehen? Oleg Arestowytsch, entthronter ukrainischer Präsidentenberater, hat schon Verhandlungen über einen Waffenstillstand gefordert.
Saluschnyj aber tut das keineswegs. Die Äußerungen im „Economist“ und ein begleitender Essay haben eine ganz andere Zielrichtung. „Moderne positionelle Kriegsführung und wie man hier gewinnt“ heißt Saluschnyjs Aufsatz – und das stellt bereits sein Anliegen klar: Ja, es gibt wenig Bewegung im Frontverlauf. Aber es gibt nach Saluschnyjs Überzeugung auch Wege, aus dieser Situation herauszukommen und einen „Grabenkrieg“ wie im Ersten Weltkrieg zu vermeiden.
Was fordert der ukrainische Generalstabschef?
Vorab: Saluschnyjs bittet zwar erneut dringend um westliche Lieferungen von Waffen und Munition, aber sein Aufsatz ist keine Liste von Bestellungen. Viele Passagen lesen sich eher wie Entwicklungsaufträge an die eigenen Leute. Ein Beispiel: Die ukrainischen Truppen haben größte Schwierigkeiten beim Beseitigen der von den russischen Besatzern gelegten Minenfelder, die nach Saluschnyjs Angaben bis zu 20 Kilometer breit sind. Saluschnyj fordert den Einsatz unbemannter Fahrzeuge und alternative Räumverfahren – möglicherweise sogar mit aus der Bauindustrie bekannten Mini-Tunnelbohrmaschinen oder durch Raketenbeschuss.
Die Minenräumung ist der dritte von fünf Punkten, die Saluschnyj aufzählt. Die übrigen vier lauten: Luftüberlegenheit, Bekämpfung feindlicher Artillerie, Personalgewinnung und elektronische Kriegsführung. Beim Personal sind Saluschnyjs Forderungen logischerweise an die eigene Regierung adressiert: Er verlangt eine systematische Erfassung von Kriegsdienstpflichtigen und ein konsequentes Training von Reservisten – Dinge, die bisher im Argen lagen.
Welche Folgen hätte ein weiterer Stillstand an der Front?
Saluschnyj geht vermutlich zu Recht davon aus, dass ein Stillstand auf Dauer die russischen Angreifer begünstigt. Präsident Wladimir Putin regiert diktatorisch. Kriegsgegner lässt er einsperren. Russland habe 150 000 Gefallene zu beklagen, sagte Saluschnyj im „Economist“-Interview, und das hätte in jedem anderen Land den Krieg gestoppt – aber nicht in Putins Reich. Fast ein Drittel des russischen Staatshaushalts soll 2024 ins Militär fließen, und die Planungen reichen weiter bis ins Jahr 2025 und darüber hinaus. Die Ukraine braucht westliche Unterstützung, und die steht immer wieder zur Diskussion, wie der Wahlsieg prorussischer Kräfte in der Slowakei und das Chaos im US-Repräsentantenhaus zeigen.
Wie steht es um die ukrainische Offensive?
Die bisherige Bilanz der im Sommer begonnenen ukrainischen Offensive ist gespalten. Der Westen habe von den ukrainischen Streitkräften „Dinge erwartet, die sie kaum leisten konnten“, meint der Kiewer Analyst Mykola Bielieskow. Die Vorstöße des ukrainischen Heers waren und sind darauf angelegt, vom Norden her in Richtung Asowsches Meer durchzubrechen, um die für die russische Kriegslogistik zentrale Landverbindung zwischen Donbass und Krim zu trennen. Tatsächlich aber liegen Städte wie Melitopol oder Berdjansk für die ukrainischen Truppen noch in weiter Ferne. In Teilen des Donbass hat sogar Russland die Initiative übernommen, auch wenn die Vorstöße der Okkupatoren bei extrem hohen Verlusten wenig Effekt haben. Die Ukraine hat ihren bisher größten Erfolg am Boden bei Robotyne im Bezirk Saporischschja erzielt. Die Einnahme oder zumindest Abriegelung des benachbarten Verkehrsknotens Tokmak wäre ein Minimalziel, aber auch dieses wurde bisher nicht erreicht – wenngleich die Besatzer durch ständigen Beschuss in Bedrängnis sind.
Komplett anders sieht es im Luft- und Seekrieg aus. Die Ukraine, die selbst keine großen Kriegsschiffe mehr besitzt, hat der russischen Schwarzmeerflotte schwere Schäden zugefügt, zuletzt durch die Demolierung eines Lenkwaffenträgers. Sie hat die Luftabwehr auf der besetzten Krim massiv geschwächt und verwehrt der russischen Marine Operationen westlich der Halbinsel. Patrouillenfahrten zum Stopp von Getreidefrachtern wären aus russischer Sicht schlicht zu riskant, am Mittwoch griff Russland allerdings einen liberianischen Frachter mit einem Marschflugkörper an und tötete den Kapitän. Nach ukrainischen Raketenangriffen auf Flugfelder in den besetzten Städten Berdjansk und Luhansk musste Russland Kampfhubschrauber nach Taganrog, also auf eigenes Territorium, zurückziehen – und auch dort wurden sie zum Ziel eines ukrainischen Luftschlages. Ein ukrainischer Angriff auf ein Schulungszentrum für Drohnenpiloten im besetzten Donezk scheint die russischen Streitkräfte so hart getroffen zu haben, dass man allen Ernstes am Mittwochabend den UN-Sicherheitsrat zusammentrommelte.
Wie steht es um die Luftwaffe?
Zurück zu Bielieskow: Zu den kaum leistbaren Dingen, die der Westen von der Ukraine forderte, gehörte es vor allem, einen Landkrieg zu führen, ohne zuvor Luftüberlegenheit hergestellt zu haben. Keine Nato-Armee würde sich darauf einlassen, und konsequenterweise steht die Luftüberlegenheit auf Platz 1 von Saluschnyjs Liste. Insgesamt läuft sein Ansatz darauf hinaus, die von Russland aufgewendeten Massen von Menschen und Material durch technische Raffinesse auszugleichen – auch und gerade im Luftraum.
Nach Saluschnyjs Angaben hatte die ukrainische Luftwaffe zu Kriegsbeginn 40 einsatzbereite Kampfflugzeuge (von insgesamt 120). Sie hat zwar rund 50 MiG-29-Jäger von Nato-Staaten erhalten, aber nach der Auflistung des Online-Dienstes Orys aber 74 Kampfjets verloren. Sie mag zuvor nicht einsetzbare Flugzeuge instand gesetzt haben und wartet dringend auf die von westlichen Staaten zugesagten F-16 – aber die Zahlen machen klar, dass die Ukraine Luftüberlegenheit nur mit unkonventionellen Methoden sichern kann. Russland büßte übrigens neben drei strategischen Bombern 83 Kampfjets ein – dies aber bei einem Ausgangsbestand von 1153 Kampfflugzeugen (laut Internationalem Institut für Strategische Studien). Mit der Masse an russischen Jets wird die Ukraine nie konkurrieren können. Umso mehr setzt Saluschnyj auf Abwehr und Drohneneinsätze.
Gibt es ein Modell für Saluschnyjs Ideen?
Da lohnt ein Blick ans Ostufer des Dnipro bei Cherson. Seit Monaten vollziehen sich hier rätselhafte Dinge, über die man am ehesten von russischer Kriegsbloggern etwas erfährt. Die wiederum sind daran interessiert, die Stimmung im eigenen Land anzuheizen, so dass man nicht jeden ihrer Alarmrufe für bare Münze nehmen darf. Nach Einschätzung des Institute for the Study of War darf man aber davon ausgehen, dass rund 300 ukrainische Soldaten den größten von insgesamt drei Brückenköpfen halten. Ein beim russischen Blogger Romanow gepostetes Foto zeigt, wie ein gepanzerter Truppentransporter per Boot über den Fluss gebracht wird – ob es inzwischen mehr geworden sind, ist unklar.
Das alles ist zu viel Aufwand für ein reines Ablenkungsmanöver, aber ob sich die in weiten Teilen unwegsame Dnipro-Niederung wirklich zum Start eines größeren Vorstoßes eignet, ist fraglich. Allerdings hatten Ukrainer und Briten gerade bei Krynky anno 2020, knapp zwei Jahre vor dem russischen Überfall, eine Flussquerung geübt. Zunächst jedoch scheinen die Ukrainer vorzuhaben, ihre drei Brückenköpfe zu verbinden. Östlich von Krynky könnten sie außerdem die Fernstraße M14 zu erreichen versuchen. Die verläuft hier parallel zum Fluss und knickt dann ab – und zwar in Richtung Melitopol.
Auf jeden Fall interessant ist Krynky aus einem anderen Grund. Luftabwehrsysteme und Gepard-Panzer am Westufer des Dnipro halten russische Flugzeuge auf Distanz. Aus der Ferne – mit Gleitbomben – können sie gegen die schnellen Boote der ukrainischen Soldaten nichts ausrichten. Außerdem setzt die Ukraine hier einen ihrer bekanntesten Kommandeure ein, Kampfname Magyar (wegen seiner Herkunft aus der ungarischen Minderheit), der mit seinen Drohnenpiloten einen Schutzschirm über das Gebiet spannt. Magyars Leute haben es offenbar geschafft, zwei der fünf Forderungen von Saluschnyj zu erfüllen: per Drohnen („Magyars Vögel“) Luftüberlegenheit herzustellen und zugleich – Stichwort elektronische Kriegsführung – die russischen Navigationssysteme zu stören. Das ist die eigentliche Botschaft des russischen Videos vom Fährboot mit dem Truppentransporter: Die Besatzer sind hier offenbar nicht mehr in der Lage, die ukrainische Logistik mit eigenen Drohnenangriffen zu stören.
Was auch immer die Ukraine hier vorhat, Krynky erscheint wie ein Pilotprojekt für Saluschnyjs Konzept, zu dem ausdrücklich der kombinierte Einsatz von Drohnen und Mitteln der elektronischen Kriegführung gehört. Nur: Über die ganze Länge der Front würde die Ukraine dafür nicht nur den einen Kommandeur mit der Expertise von Magyars brauchen, sondern deren viele.
Fehler und Ausbildungsmängel bei der ukrainischen Armee
19 ukrainische Soldaten der 128. Gebirgsjägerbrigade aus Transkarpatien sind am 4. November bei einem russischen Raketenangriff im Dorf Zarichne (Bezirk Saporischschja) ums Leben gekommen. Ihr Kommandeur hatte sie zur Verleihung von Auszeichnungen antreten lassen – offenbar unter freiem Himmel, dicht hinter der Front. Ein schwerer Fehler mit tödlichen Konsequenzen, den man normalerweise russischen Kommandeuren zutrauen würde (einen ähnlichen Vorfall mit vielen toten russischen Soldaten gab es im Juni bei Kreminna, Bezirk Luhansk), aber nicht den doch vermeintlich an Nato-Standards orientierten ukrainischen Offizieren.
Am gleichen 4. November hatte der bestens im ukrainischen Militär vernetzte Blogger Tatarigami einen von Präsident Selenskyj angekündigten Umbau der Militärführung zum Anlass genommen, die Ablösung von Heereschef Oleksandr Syrskyj verlangt. Der Drei-Sterne-General gilt seit der ukrainischen Nordost-Offensive vom Herbst 2022 als Nationalheld, Tatarigami bestreitet seine Verdiente und hält ihn für einen in überholten Vorstellungen befangenen Kommandeur, der eine unverhältnismäßig hohe Zahl ukrainischer Opfer in der Schlacht um Bachmut zu verantworten habe. Ein paar Tage später legte Tatarigami nach und veröffentlichte ein Interview mit Kompaniechef „Schlange“, der schwere Ausbildungsmängel bei Unteroffizieren beklagte. Das sind Meinungsäußerungen, aber sie belegen Unruhe im ukrainischen Militär.
Eigene Unprofessionalität hat Hennadij Tschastjakow, den Assistenten von Generalstabschef Saluschnyj, das Leben gekostet. Der Major feierte am 6. November Geburtstag, erhielt von einem Gast Whisky und Handgranaten (!) geschenkt, nahm die Sprengkörper auch noch mit nach Hause und führte einen davon im Familienkreis vor. Die Handgranate explodierte, Tschastjakow starb, eins seiner vier Kinder wurde schwer verletzt. (rn)