Eine der bekanntesten islamischen Frauenrechtlerinnen der Türkei schlägt Alarm: Nach einer landesweiten Predigt des staatlichen Religionsamts wächst die Sorge vor einem radikalen Kurswechsel unter Präsident Erdogan.
Kurswechsel unter Erdogan?Angst vor der Kopftuchpflicht in der Türkei

Istanbul: Menschen sitzen an der Eminonu-Promenade, während Fähren den Bosporus überqueren.
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Die Haare von Berrin Sönmez sind unter dem Kopftuch ergraut. Jahrzehntelang verbarg die heute 64-jährige Autorin und islamische Frauenrechtlerin ihren Kopf unter dem Schleier, doch jetzt hat sie das Tuch abgelegt, um die Türkinnen vor einer Gefahr zu warnen: Sie befürchtet, die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan wolle das Kopftuch zur Pflicht machen. Nie hätte sie das in der Türkei für möglich gehalten, sagt sie: „Ich habe immer gesagt, das werde in der Türkei nie geschehen. Aber ich glaube, jetzt steht es kurz bevor.“
„Werden Glauben, Lebensstil oder Kleidung nicht vorschreiben“
Erdogan hatte den Türken ein Versprechen gemacht, als seine islamisch-konservative Partei AKP vor 23 Jahren an die Macht gewählt wurde – ein Versprechen, das er als Staatspräsident immer wieder bekräftigt: „Wir werden niemandem seinen Glauben, Lebensstil oder Kleidung vorschreiben.“
Nun befürchten Frauenrechtlerinnen wie Sönmez, dass Erdogan sein Versprechen bricht. Aufgeschreckt wurden sie von einer Predigt, die das staatliche Religionsamt landesweit beim Freitagsgebet vortragen ließ. „Das Tragen von kurzen Kleidungsstücken und durchsichtiger Kleidung verstößt gegen Allahs Gebot, den Körper zu bedecken, und ist verboten“, hieß es in der Ansprache. „Wer enge Kleidung trägt oder Kleidung, die Arme und Beine entblößt, ist nach den Worten des Propheten so gut wie nackt. Kleidung, die den Körper zeigt oder seine Konturen betont, ist keine Geschmacksfrage, sondern ein Verstoß gegen die Gebote Gottes.“
Verboten gehöre auch die Verbreitung von Bildern unkeusch gekleideter Personen. „Die Nacktheit, die von vielen Medien und der Werbung normalisiert wird, ist ein Angriff auf die Institution der Familie“, predigten die türkischen Imame auf Weisung des Religionsamtes. Die säkularistische Oppositionspartei CHP warf dem Religionsamt vor, Frauen zu Zielscheiben zu machen.
Sönmez ist sich sicher, dass die Predigt eine politische Kampagne ankündigt. Das staatliche Religionsamt untersteht Erdogan direkt, Leiter Ali Erbas ist ein treuer Gefolgsmann des Präsidenten. Mit einem Budget von drei Milliarden Euro und mehr als 100.000 Angestellten ist das Religionsamt eine der mächtigsten Institutionen der Türkei. Seine wöchentlichen Musterpredigten werden in den 90.000 Moscheen des Landes verlesen.
Das Religionsamt wurde einst von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk geschaffen, um dem Staat die Kontrolle über den Islam und die Gesellschaft zu sichern. Nicht einkalkuliert hatte Atatürk jedoch, dass der Staatsapparat einmal islamistischen Kräften zufallen könnte, die das Religionsamt für ihre Zwecke nutzen.
Erbas Behörde hatte erst im Juni die Deutungshoheit über den Koran in der Türkei an sich gerissen. Nach einem neuen Gesetz kann das staatliche Religionsamt nun alle türkischen Koran-Ausgaben verbieten, beschlagnahmen und vernichten lassen, die nicht seiner konservativen und orthodoxen Auslegung entsprechen.
Vor Erdogan benachteiligte der Staat Frauen mit Kopftuch
Als Erdogan Anfang der 2000er Jahre an die Regierung kam, waren die Frauen mit Kopftuch in der Türkei unterdrückt, weil der Staat ihnen das Studium und eine Laufbahn als Beamtin verbot. Doch Erdogan hob das Kopftuchverbot auf.
Die Kopftuch-Predigt vermittelt jetzt den Eindruck, der Spieß solle umgedreht werden. „Wenn wir anfangen, unsere Gesetze nach religiösen Vorschriften auszurichten, wird das kein Ende haben“, sagte der angesehene Kommentator Murat Yetkin in seinem YouTube-Kanal.
Berrin Sönmez ist nicht die einzige islamische Aktivistin, die das ablehnt. Rümeysa Camdereli von der Frauenrechtsgruppe Havle Kadin Denergi sagte dem Nachrichtenportal T24, auch sie werde ihr Kopftuch ablegen, wenn eine Pflicht eingeführt werden sollte. Denn dann werde aus einem Appell des Religionsamtes staatliches Unrecht.
Sönmez zeigte sich jetzt mit ihren grauen Haaren in einem Interview des unabhängigen Internet-Senders Medyascope. Sie werfe ihr Kopftuch dem Religionsamt vor die Füße, sagte sie. Die Kopftuch-Predigt sei ein verschlüsselter Aufruf an die türkischen Männer.
„95 Prozent der Zuhörer in der Moschee sind Männer“, sagte Sönmez in Medyascope. „Die Predigt wendet sich also an die Männer und fordert sie auf, die Familie zu schützen. Der Begriff Familie ist hier ein Code-Wort: Code für die Herrschaft der Männer. Die Botschaft lautet, die Männer sollen wieder die Macht in der Familie übernehmen. Und die Ergebnisse sehen wir in der Gesellschaft.“
Nur wenige Tage nach der Predigt wurde eine Frau in Istanbul auf der Straße attackiert, weil sie eine kurze Hose trug. Recht geschehe es ihr, kommentierte ein AKP-Politiker: Wenn sie halbnackt herumlaufe, verdiene sie es nicht anders.