Militärexperte im Interview„Ich sehe Moldawien als nächstes Opfer“

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Wladimir Putin bei seiner Rede

Der Westen hängt Illusionen an, was den Fortgang des Ukraine-Kriegs angeht – sagt zumindest der Militärexperte Carlo Masala. Europa und Deutschland seien mit Schuld daran, dass Russland noch auf Jahre hinweg Kriege führen werde. Hat er recht?

Herr Professor Masala, seit mehr als 100 Tagen dauert nun schon der Krieg in der Ukraine. Welche Ansatzpunkte sehen Sie, um ihn zu beenden?

Es gibt drei Situationen, in denen Kriege klassischerweise aufhören. Erstens, dass eine der beiden Seiten militärisch gewinnt – das ist derzeit nicht abzusehen. Zweitens, dass beide Seiten erschöpft sind – das könnte der Fall sein, weil es in der Ukraine auf einen Abnutzungskrieg hinausläuft. Drittens, wenn eine der beiden Seiten das Gefühl hat, dass sie mehr zu verlieren als zu gewinnen hat. Wenn die Russen den Ukrainern also noch mehr Territorium abnehmen, könnte die Zeit für ernsthafte Friedensverhandlungen da sein.

Zur Person

Carlo Masala (54) ist seit 2007 Professor für Internationale Politik an der Bundeswehr-Universität in München. Dort leitet er das Institut für Strategie und Vorausschau. Der gebürtige Kölner studierte an den Universitäten Köln und Bonn und arbeitete danach etwa am Nato Defense College im Rom. Als Experte für Sicherheitspolitik berät Masala unter anderem das Bundesverteidigungsministerium. Außerdem diskutiert er im Podcast „Sicherheitshalber“ regelmäßig über die internationale Lage. (EB)

Ex-US-Außenminister Henry Kissinger hat jüngst für Empörung gesorgt mit dem Vorschlag, die Ukraine könne Gebiete in der Ostukraine an Russland abtreten, um einen Frieden möglich zu machen. Hat Kissinger recht?

Nein, absolut nicht. Denn bei einer Abtretung hat die Ukraine keine Garantie dafür, dass damit das russische Interesse befriedigt ist. Russland verfolgt immer noch das große Kriegsziel, die Ukraine als Ganzes zu „entnazifizieren und demilitarisieren“, wie sie es nennen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat jüngst noch angedeutet, dass die Regierung eins nach dem anderen machen will: Erst den Donbass besetzen, dann weitere Gebiete.

Glauben Sie, Putin würde nach Eroberung der Ostukraine weitermachen?

Diese Gefahr besteht. Und alle russischen Äußerungen deuten darauf hin. Putin kann nach einer Atempause von drei Wochen oder auch von ein, zwei Jahren seine Truppen regenerieren und neu aufstellen. Sein Fernziel ist, die Nato-Osterweiterung wieder rückabzuwickeln. Dieser Punkt ist sehr wichtig, den muss der Westen verstehen.

Also sehen Sie neben der Ukraine weitere Länder in Gefahr?

Ja. Ich sehe Moldawien als nächstes Opfer. Wenn Russland den Donbass bis zur Krim besetzt, ist es leicht, Moldawien anzugreifen. Ich sehe auch Georgien in Gefahr – alle Staaten in der unmittelbaren Peripherie Russlands, die keine Sicherheitsgarantien durch die Nato haben. Die baltischen Staaten erst mal nicht, weil diese Nato-Territorium sind, Putin wird sich nicht mit der Nato anlegen.

Westliche Politiker mahnen, Putin einen gesichtswahrenden Ausweg aus dem Krieg zu bieten.

Ich verstehe nicht, wieso man im Westen glaubt, dass eine russische Föderation, die den Donbass nicht bekommt, dadurch eine demütigende Niederlage erleidet. Eine Demütigung sehe ich erst, wenn Moskau eigenes, also russisches Territorium verlieren würde und diese Gefahr besteht nicht.

Welche Idee halten Sie für am wahrscheinlichsten für ein Kriegsende?

Der Ukraine müsste es gelingen, die Russen militärisch auf den Stand vom 23. Februar – also vor dem russischen Angriff – zurückzudrängen. Dafür müsste der Westen aber Panzer und Kampfflugzeuge liefern, was bisher nicht passiert. Erst dann könnte man verhandeln – etwa über eine weitreichende Autonomie des Donbass und eine entmilitarisierte Zone auf beiden Seiten. Aber nochmal: Das ist keine Garantie, dass es nicht einen neuen Angriff Russlands gibt. Denn wir haben es mit einem Akteur zu tun, der wild entschlossen ist, sich erst die Ostukraine und dann die gesamte Ukraine einzuverleiben.

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Ist es ein Fehler, die Ukraine nicht stärker zu unterstützen?

Tja, der Westen legt sich nicht fest und sagt: Die Ukraine darf nicht verlieren – ohne dass klar ist, was das eigentlich genau heißt. Die Strategie des Westens ist es, die Russen in einen langen Abnutzungskrieg hinein zu ziehen, so dass die Kosten explodieren und die Russen sich den Krieg irgendwann nicht mehr leisten können. Das wird aber eine längere Zeit, ich denke, Jahre, dauern.

Aber auch die europäischen Staaten werden schon kriegsmüde ...

Genau darauf zielt Putin ab. Der Herbst und Winter stehen bevor. Dann werden die Bürger in Westeuropa enorme Kosten des Krieges ertragen müssen, weil die Preise für Benzin, Öl, Gas und Lebensmittel explodieren. Die Westeuropäer werden das nicht hinnehmen - die Osteuropäer sind da meiner Meinung nach resistenter. Der gesellschaftliche Druck auf Bundeskanzler Scholz wird steigen, die umfangreiche militärische und ökonomische Unterstützung der Ukraine zu reduzieren beziehungsweise die Ukraine zu einem Friedensschluss zu drängen. Die Regierung kommt in die Zwickmühle und muss auf das eigene Volk hören. Genau das ist Putins Kalkül.

Sie glauben also nicht, dass die Bundesbürger nach dem Motto „Frieren für den Frieden“ bereit sind, weitere Belastungen hinzunehmen?

Nein, das glaube ich nicht. „Frieren für den Frieden“ wird garantiert nicht das Leitmotiv der Deutschen im Herbst werden. Das ist aber kein deutsches Phänomen, sondern ganz normal. Menschen sind bereit, Dinge solidarisch zu unterstützen, solange es sie nicht zu viel kostet. Wenn die Menschen aber das Gefühl haben, die Sanktionen gegen Russland schaden ihnen mehr als dem Gegner, dann lehnen sie das ab. Und genau darauf läuft es hinaus.

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