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Interview

Missbrauchsbeauftragte Claus
„Die Kinder wurden systematisch gebrochen“

4 min
Sieht den Staat in der Pflicht: die Bundesbeauftragte Kerstin Claus.

Sieht den Staat in der Pflicht: die Bundesbeauftragte Kerstin Claus.

Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung und Mitglied der Grünen, spricht im Interview mit Marie Busse über das systematische Unrecht in Kinderheimen der Nachkriegszeit – und erklärt, wie sie sich eine Entschädigung für Betroffene vorstellt.

Hunderttausende Heimkinder – Schätzungen gehen von bis zu 800.000 aus – lebten in den 1950er- und 1960er Jahren in der Bundesrepublik und auch in der DDR. Viele berichten von furchtbaren Erfahrungen. Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Probleme dieser Zeit?

Das Erschütternde ist, wie sich über Jahrzehnte hinweg systematische Gewalt gegen Kinder in Heimen manifestiert hat. Es gab Personal- und Arztstrukturen, die teilweise aus der NS-Zeit übernommen wurden. Kinder wurden mit Zwangsarbeit, Foltermethoden und sexualisierter Gewalt systematisch gebrochen. Und das Unrecht setzt sich fort bis heute: Weil Kinderarbeit verboten war, konnten Betroffene später keine Rentenansprüche geltend machen. Das heißt, sie wurden doppelt entrechtet – in ihrer Kindheit und im Alter.

Sie sagen, es gehe nicht nur um sexualisierte Gewalt. Welche Formen von Gewalt erlebten Betroffene in den Heimen?

Viele dieser heute oft über 80-jährigen Menschen sind unter einer allumfassenden Gewaltglocke aufgewachsen. Für sie war es oft nicht möglich, neben all der körperlichen Folter, Zwangsarbeit, psychischen Gewalt konkret den erlittenen sexuellen Missbrauch zu benennen. Daher ist es respektlos und in meinen Augen menschenverachtend, wenn der Staat heute Leistungen oder Entschädigungen mit diesem Fokus verweigert. Gerade weil diese Betroffenen so systematisch in ihrer Biografie beeinträchtigt wurden, ist es essentiell, eine möglichst umfassende Anerkennung und Wiedergutmachung durch den Staat, aber auch die verantwortlichen Institutionen zu leisten.

Was müsste denn konkret passieren?

Ich kann mich der Forderung der Betroffenen nach einer Grundrente für ehemalige Heimkinder nur anschließen. Österreich geht da mit gutem Beispiel voran und zahlt ehemaligen Heimkindern 300 Euro monatlich. Das halte ich für angemessen. Viele der ehemals in Heimen untergebrachten Menschen konnten aufgrund ihrer Erfahrungen nie in eine klassische Erwerbsbiografie eintreten. Sie leben heute in Altersarmut – oft mit der Angst, im Alter wieder in einer Heimeinrichtung sein zu müssen, vielleicht sogar beim gleichen kirchlichen Träger wie früher.

Warum sollte denn der Staat für die Heimkinder zahlen, die Träger waren ja häufig Kirchen oder Wohlfahrtsverbände?

Der Staat hat Kinder in kirchliche Heime gegeben, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen. Diakonissen oder Klosterschwestern etwa waren billige Arbeitskräfte, der Staat hat sich da einen schlanken Fuß gemacht und nicht kontrolliert, ob es den Kindern dort auch gut geht. Also beginnt die Verantwortung beim Staat. Aber auch die Träger müssen sich fragen, warum sie noch heute keine angemessene Entschädigung leisten – selbst in Fällen, in denen Zwangsarbeit und Gewalt gut dokumentiert sind.

Was schlagen Sie konkret vor, um eine gerechtere Entschädigung zu erreichen?

Die Wohlfahrtsverbände und Kirchen könnten proaktiv auf solche Betroffene zugehen, wo Akten das erlittene Unrecht gut dokumentieren. Sie sollten sie aktiv unterstützen, zivilrechtlich zu klagen und sich selbst nicht auf die zivilrechtliche Verjährung berufen. Denn dann würde endlich ein staatliches Gericht über Anerkennung und die Höhe einer angemessenen Entschädigung entscheiden. Das wäre dann etwas, woran sich künftig Institutionen, aber auch der Staat und die Betroffenen orientieren könnten. Wir müssen uns immer wieder neu klar machen: Es geht hier nicht über Almosen. Wir sprechen über bis heute nicht geahndete Verbrechen.

Wie bewerten Sie die heutige Situation für Kinder, die in stationären Einrichtungen oder Pflegefamilien untergebracht sind? Ist es sicherer geworden?

Ja, es ist besser geworden. Die riesigen Schlafsäle, die totale Kontrolle – das alles ist heute nicht mehr Standard. Aber: Wir haben es nach wie vor mit einer hoch vulnerablen Gruppe zu tun, die auch heute überproportional Gewalt ausgesetzt ist, auch in den stationären Einrichtungen der Jugendhilfe. Machtmissbrauch ist immer noch ein Thema aber auch Gewalt und Übergriffe unter den jungen Menschen. Deshalb ist es entscheidend, dass die verpflichtenden Schutzkonzepte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch gelebt werden.

Was bedeutet das konkret?

Gelebte Schutzkonzepte brauchen eine klare Haltung: Einen Verhaltenskodex, Selbstverpflichtungen, Meldewege und Beschwerdestellen, auch für Kinder – und vor allem Partizipation. Kinder müssen von Anfang an mitgestalten dürfen. Nur dann gibt es Vertrauen. Nur dann werden auch Grenzverletzungen gemeldet. Und: Ich warne davor, wegen Fachkräftemangels auf Schnellqualifikationen zu setzen. Das erhöht das Risiko für die Kinder enorm. Schutz darf nicht unter dem Vorwand des Personalmangels aufgeweicht werden.