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Proteste im IranWut reicht bis in die iranische Staatsspitze

Lesezeit 4 Minuten

Proteste gegen die Regierung im Iran greifen immer weiter um sich: Auch viele Frauen gehen jetzt auf die Straßen.

Istanbul/Teheran – Zum ersten Mal seit Ausbruch der Proteste im Iran seit mehr als drei Wochen hat die Staatsführung die Wut der Demonstranten am eigenen Leib zu spüren bekommen. „Hau ab“, riefen Studentinnen der Teheraner Alzahra-Universität bei einem Besuch von Präsident Ebrahim Raisi an ihrer Hochschule.

Vor allem junge Leute zeigen ihre Wut

In einem Auditorium der Universität, an der ausschließlich junge Frauen studieren, nannte der Präsident die Universitäten eine Hochburg des Widerstandes gegen die Feinde der Islamischen Republik – während draußen Sprechchöre wie „Mullahs weg“ ertönten.

Zu dem Reinfall für Raisi bei dem Besuch trugen mehrere Faktoren bei, die den Protest gegen das theokratische System seit dem Tod der 22-jährigen Mahsi Amini in den Händen der Religionspolizei am 16. September prägen: Erstens zeigen vor allem junge Leute ihre Wut und tun das selbst in Anwesenheit des Präsidenten und ohne Angst vor Schlägen.

Zweitens ist die Polizei nicht in der Lage, den Protest zu unterdrücken. Drittens dringen Fotos und Videos trotz aller Internetbeschränkungen der Regierung über die sozialen Medien an die Außenwelt. Und viertens gibt es keinen Dialog zwischen den Herrschenden und den Demonstranten.

Hackerangriff bei Abendnachrichten

Zum Besuch des Präsidenten an der Universität kam am Wochenende noch eine andere Blamage für das Regime. Hacker der Gruppe „Edalat-e Ali“ unterbrachen die Abendnachrichten im iranischen Staatsfernsehen während eines Berichts über Revolutionsführer Ali Khamenei mit einer Einblendung, die Khameneis Gesicht im Fadenkreuz einer Waffe und von Flammen umgeben zeigte. Dazu wurden dramatische Musik und ein Schlachtruf der Demonstranten – „Frauen, Leben, Freiheit“ – eingeblendet. Unter Khameneis Bild erschienen Fotografien von Mahsa Amini und drei anderen Frauen, die bei den Protesten ums Leben gekommen sind, sowie der Text: „Das Blut unserer Jugend klebt an deinen Klauen.“

Ein Wandel kann nur von innen kommen - Kommentar von Thomas Ludwig

Thomas Ludwig

Es ist nicht so, als gäbe es noch keine Strafmaßnahmen gegen das islamische Regime in Teheran. Genützt haben sie wenig. Zwar haben sie die Wirtschaft geschwächt mit Konsequenzen für die einfachen Leute. Doch der Macht- und Sicherheitsapparat der Mullahs ist stark wie eh und je.

Im akuten Fall zeigt sich einmal mehr, dass auch das Konzept einer von den Grünen apostrophierten „feministischen“ und „werteorientierten“ Außenpolitik an seine Grenzen gerät. Tatsächlich kann ein Wandel im Iran nur von innen kommen. Internationale Solidarität kann die Menschen dabei natürlich ermuntern, in ihrem Kampf um Freiheit nicht nachzulassen.

Die Mullahs haben den Bürgern nichts anzubieten als Fanatismus, der allein dem Machterhalt der religiösen Clique dient. Revolutionsführer Ali Khamenei und seine Hardliner sind in ihrer Ideologie gefangen. Das versperrt ihnen einen realistischen Blick auf die Missstände.

Doch ob die jüngsten Proteste tatsächlich eine „kritische Masse“ erreichen und das Potenzial haben, das System zu stürzen, ist fraglich. Seit Jahren erschüttern den Iran regelmäßig Revolten. Noch immer aber ist es dem Regime gelungen, sie niederzuschlagen. So steht zu befürchten, dass es auch diesmal nicht anders sein wird.

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Auch wenn der Hacker-Angriff nur zwölf Sekunden dauerte, zeigte er doch, dass die Protestbewegung über technische Mittel verfügt, um das Regime anzugreifen. Auf den Straßen des Landes gingen die Demonstrationen gestern weiter; die Zahl der Todesopfer seit Mitte September ist nach einer Zählung der iranischen Exil-Menschenrechtsorganisation IHR inzwischen auf 185 gestiegen.

„Das Blut unserer Jugend klebt an deinen Klauen“

Versuche von Raisis Regierung, den Demonstranten den Wind aus den Segeln zu nehmen, sind bisher gescheitert. So veröffentlichten die Behörden einen Bericht über den Tod von Mahsa Amini, um Vorwürfe zu entkräften, die junge Frau sei von der Religionspolizei totgeprügelt worden. Dass die 22-Jährige an unerkannten Vorerkrankungen gestorben sein soll, wie es in dem Bericht hieß, widerspricht jedoch Schilderungen ihrer Familie und von Augenzeugen.

Die „Financial Times“ berichtete aus Teheran, Händler im Basar der Hauptstadt hätten zum ersten Mal seit Ausbruch der Proteste ihre Geschäfte geschlossen, weil sie ihre Waren vor möglichen Schäden schützen wollten. Bisher gibt es aber keine Anzeichen dafür, dass die Basarhändler einem Streikaufruf der Demonstranten folgen. Die Haltung der Händler bei den Protesten ist wichtig: Im Jahr 1979 verhalfen sie der islamischen Revolution zum Sieg über das Schah-Regime.

Der Grund dafür, dass sich die Proteste nach mehr als drei Wochen immer noch ausbreiten, liegt nach Einschätzung des iranischen Politologen Javad Heirannia an einem strukturellen Fehler der Islamischen Republik: Die Theokratie sehe keinen Platz für die Zivilgesellschaft vor, die bei Spannungen als Vermittlerin dienen könnte.

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Außenministerin Annalena Baerbock hat unterdessen weitere Sanktionen gegen die Urheber von Unterdrückungsmaßnahmen angekündigt. „Wir werden dafür sorgen, dass die EU die Verantwortlichen dieser brutalen Repressionen mit Einreisesperren belegt und ihre Vermögen in der EU einfriert“, sagte die Grünen-Politikerin der „Bild am Sonntag“. Die Rufe der Menschen auf den Straßen in Iran nach Selbstbestimmung seien „ohrenbetäubend“. (Mit dpa)