„Unglaubliche 87 Prozent verloren“Russische Soldaten wütend über „Idiotie“ – Putin trinkt trotzdem schon Schampus

Lesezeit 5 Minuten
Der russische Präsident Wladimir Putin stößt mit Soldaten an, die als „Helden Russlands“ ausgezeichnet wurden. Mehr als 300.000 russische Soldaten sollen seit Kriegsbeginn getötet oder verwundet worden sein.

Der russische Präsident Wladimir Putin stößt mit Soldaten an, die als „Helden Russlands“ ausgezeichnet wurden. Mehr als 300.000 russische Soldaten sollen seit Kriegsbeginn getötet oder verwundet worden sein.

Die russischen Verluste scheinen extrem. Deserteure berichten über brutale Bedingungen. Aber Putin zeigt sich unbeeindruckt.

Für Wladimir Putin könnte es schlechtere Zeiten geben. Nachdem der Kremlchef bekannt gegeben hat, dass er auch über 2024 hinaus der mächtige Mann in Moskau bleiben will, zeigte Putin sich am Wochenende gut gelaunt und mit Champagner in der Hand – und freute sich über die schwindende internationale Unterstützung für die Ukraine. „Unsere Militärproduktion boomt, wir stellen immer mehr Waffen her – ihre Ressourcen schwinden“, erklärte Putin mit Blick auf das von Russland illegal angegriffene Nachbarland.

Tatsächlich sinkt die internationale Unterstützung für die Ukraine in den letzten Wochen immer weiter. Eine Reise des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach Washington blieb zuletzt erfolglos – die Republikaner machen in den USA weiterhin die Ukraine-Hilfe von innenpolitischen Bedingungen abhängig.

Freude bei Wladimir Putin: Unterstützung für die Ukraine schwindet

Das sorgt nicht nur für Unsicherheit in Kiew, sondern auch für Freude in den russischen staatlichen Medien – und offenbar auch beim Kremlchef selbst, der erklärte, die russische Zukunft hänge in großem Ausmaß von der Kampfkraft seiner „Spezialeinsatzkämpfer“ ab. Gemeint sind damit die Soldaten, die im Krieg gegen die Ukraine zum Einsatz kommen, der in Russland auf Putins Geheiß hin nach wie vor nicht Krieg genannt werden darf.

Worüber der Kremlchef öffentlich nicht spricht, sind unterdessen die extremen Verluste, die seine Streitkräfte seit Kriegsbeginn erlitten haben – und weiterhin erleiden, wie die Schlacht um Awdijiwka in den letzten Wochen mit enormen Verlustraten belegt hat.

US-Geheimdienste bestätigen hohe Verluste bei russischer Armee

Während der Kreml die eigenen Verluste kleinredet oder ganz verschweigt, hatte das britische Verteidigungsministerium Berechnungen der Ukraine zuletzt gestützt, mehr als 300.000 russische Soldaten sollen demnach seit Kriegsbeginn getötet oder verwundet worden sein.

Ähnliche Zahlen werden nun auch von US-Geheimdiensten genannt, wie der TV-Sender CNN berichtet. Russland habe demnach „unglaubliche 87 Prozent“ der vor der Invasion vorhandenen aktiven Bodentruppen verloren. Auch zwei Drittel der russischen Panzer seien seit Kriegsbeginn zerstört worden, berichtete der US-Sender über einen Geheimdienstbericht, der dem US-Kongress vorgelegt worden sei.

Widerstand in Russland: Wütende Ehefrauen und desertierende Soldaten

315.000 der zu Kriegsbeginn verfügbaren 360.000 Soldaten habe Russland demnach mittlerweile verloren, darunter Vertragssoldaten sowie Wehrpflichtige. Rund 2.200 russische Panzer seien im Krieg außerdem zerstört worden.

Russische Soldaten feuern mit einer Haubitze auf ukrainische Stellungen nahe Lyman. Immer wieder berichten Deserteure über brutale Bedingungen in Putins Armee. (Archivbild)

Russische Soldaten feuern mit einer Haubitze auf ukrainische Stellungen nahe Lyman. Immer wieder berichten Deserteure über brutale Bedingungen in Putins Armee. (Archivbild)

Gegen diesen hohen Blutzoll hatte sich in Russland zuletzt Widerstand gebildet. So forderten Ehefrauen von Soldaten eine bessere Behandlung ihrer Männer an der Front. Die Proteste richteten sich dabei nicht grundsätzlich gegen den Angriff auf die Ukraine, aber gegen den monatelangen Dauereinsatz der Wehrpflichtigen an der Front.

„Der einzige legale Weg, die Front zu verlassen, besteht darin, im Kampf verwundet oder getötet zu werden“, bekräftigte nun ein desertierter russischer Soldat gegenüber dem Investigativ-Projekt „The Insider“. Immer wieder flüchten einzelne Kämpfer von den russischen Truppen. Sie alle beschreiben nach ihrer Flucht widrigste Bedingungen im Einsatz.

Ich weiß, dass mir nicht nur Blut an den Händen klebt, es reicht bis zu den Ellbogen.
anonymer russischer Soldat

„Wir müssen alles selbst machen, sind nicht geschult und wissen nicht, was wir tun sollen“, sagte ein 27-jähriger Deserteur gegenüber „The Insider“. Verletzte Soldaten würden teilweise stundenlang nicht versorgt, die Befehle seien mitunter aberwitzig, berichtet der Mann. „150 Menschen sind für ein kleines Stück Wald gestorben, ich habe es selbst gesehen“.

Geflohene russische Soldaten berichten: „Es war ein Albtraum“

Nach einer Verletzung habe er schließlich beschlossen zu flüchten, so der 27-Jährige. Seine Taten in der Ukraine seien ihm jedoch sehr wohl bewusst. Vermutlich seien mehr als 1000 Menschen durch Angriffe gestorben, an denen er beteiligt gewesen sei. „Ich weiß, dass mir nicht nur Blut an den Händen klebt, es reicht bis zu den Ellbogen.“

„Es war ein Albtraum“, schildert ein weiterer Deserteur die ersten Tage nach seiner Einberufung. Es habe „völlige Verwirrung“ darüber geherrscht, „wo wir waren und was wir tun sollten“, schnell habe er den Entschluss zur Flucht gefasst, berichtet der 36-Jährige, der gegenüber „The Insider“ bestätigte, dass russische Soldaten ukrainische Häuser und Wohnungen geplündert hätten.

„Sie wissen immer noch nicht, wo ich bin und wie es mir geht“

Ohne seine Familie zu informieren, sei er schließlich geflohen. „Sie wissen immer noch nicht, wo ich bin und wie es mir geht“, schildert der Mann, der sich vor Racheaktionen der russischen Streitkräfte fürchtet und deshalb wie die anderen interviewten Deserteure anonym bleiben will. Vor seiner Flucht sei er bereits in die „medizinische Abteilung“ gewechselt, erklärt der Russe. „Ich konnte der Idiotie der Kommandeure im Hauptquartier nicht standhalten.“

Den Kremlchef scheinen jedoch weder die Proteste der Ehefrauen noch die Berichte über die Lage der Soldaten zu stören, die laut Putin die „Zukunft Russlands“ sichern sollen. Russische staatliche Medien schweigen derartige Proteste tot, auch eine Versicherung, die Lage der Soldaten zu verbessern, gibt es vom Kreml bisher nicht. Putins Reaktion auf die enormen Verluste und die schlechte Moral in seiner Truppe sieht anders aus.

Putin setzt offenbar auf Stillstand im Winter, neue Soldaten und weniger Unterstützung für Kiew

„Russland glaubt offenbar, dass ein militärischer Stillstand im Winter die westliche Unterstützung für die Ukraine schwächen und Russland letztendlich trotz anhaltender Verluste einen Vorteil verschaffen wird“, zitierte CNN einen weiteren US-Geheimdienstbericht. Putin scheint die brutale Lage seiner Truppen also nicht verbessern zu wollen, sondern spekuliert auf immer weniger Gegenwehr – und immer mehr eigene Soldaten, die in den berüchtigten „Fleischangriffen“ der russischen Armee zum Einsatz kommen können.

Zu Monatsbeginn hatte Putin seine Armee per Dekret um fast 170.000 Soldaten vergrößert. Welches Ausmaß die Aufstockung hat, wird im Vergleich klar: In der Bundeswehr dienten Ende September nach Angaben der Online-Plattform Statista rund 181.000 Berufs- und Zeitsoldaten sowie Wehrdienstleistende. Die Personalstärke der russischen Armee soll durch Putins Dekret in Zukunft auf 1,32 Millionen Soldaten anwachsen.

Rundschau abonnieren