Russlands InformationskriegWas ist Wahrheit, was ist Lüge?

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Die Redaktion der „Nowaja Gaseta“ von Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow hat erklärt, nicht mehr über den Ukraine-Krieg berichten zu können.

Die Redaktion der „Nowaja Gaseta“ von Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow hat erklärt, nicht mehr über den Ukraine-Krieg berichten zu können.

  • „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“: Dieser Ausspruch bewahrheitet sich in Russland einmal mehr.
  • Journalisten sind entsetzt über die neue drakonische Zensur-Welle. Wie sollen die Russen nun noch an verlässliche Informationen über den Krieg in der Ukraine kommen?

Moskau – Schon vor dem Krieg in der Ukraine galt Russland wahrlich nicht als Paradies für die Pressefreiheit. Rang 150 von 180 belegte das größte Land der Erde zuletzt im Index der Organisation Reporter ohne Grenzen – immerhin noch vor Staaten wie Belarus, China und Nordkorea. Nun aber ziehen die Behörden die Daumenschrauben deutlich an. Laut einem neuen Gesetz drohen bis zu 15 Jahre Freiheitsentzug für diejenigen, die angebliche „Falschinformationen“ über Russlands Streitkräfte verbreiten. Strafen drohen auch jenen, die öffentlich die Armee „verunglimpfen“.

Facebook und Twitter sind blockiert. Kritische Portale und Sender schließen. Auch mehrere ausländische Medien – darunter ARD, ZDF, Deutschlandradio und die britische BBC – setzen ihre Berichterstattung aus Russland vorübergehend aus. Die Nachrichtenagentur AFP nennt aus Sicherheitsgründen nicht mehr die Namen der in Russland arbeitenden Korrespondenten.

Kampf gegen „Neonazis“

Bereits seit vergangener Woche ist es Medien in Russland verboten, in der Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine Begriffe wie „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“ zu verwenden. Glaubt man Kremlchef Wladimir Putin, so läuft alles „nach Plan“ bei der „militärischen Spezialoperation“ – trotz der 498 Landsleute, die offiziellen Angaben zufolge dabei bislang getötet worden sein sollen. Glaubt man dem Staatsfernsehen, so kämpfen russische Soldaten im Nachbarland tapfer und überlegen gegen die „Neonazis“ in Kiew und „befreien“ den Donbass.

4400 Menschen sind am Sonntag nach Angaben von Menschenrechtlern bei russlandweiten Demonstrationen gegen die Invasion in der Ukraine mindestens festgenommen worden. In rund 60 russischen Städten soll es Proteste gegeben haben. Das Innenministerium hatte zuvor von landesweit rund 5200 Teilnehmern und mehr als 3500 Festnahmen gesprochen. (dpa)

Unterdessen schließt der kritische Radio-Sender Echo Moskwy, die Seite des Portals Meduza ist nicht mehr erreichbar, stellen die Medien Doschd und Znak ihre Arbeit vorerst ein. Selbst das Lifestyle-Magazin „The Village“, das viele Hipster für Café- und Reise-Tipps aufrufen, schließt sein Moskauer Büro. Die Begründungen der Redaktionen lauten ähnlich: Die Angst um die Sicherheit der eigenen Mitarbeiter sei zu groß.

Am Freitagabend hatte Putin mehrere Gesetze zur Einschränkung der freien Meinungsäußerung in Russland unterzeichnet, mit denen unabhängige Medienberichterstattung weiter beschnitten wird. Die „Nowaja Gaseta“ schrieb dazu: „Heute hat das russische Parlament eine Militärzensur eingeführt, ohne sie faktisch zu verkünden.“ Die Zeitung von Friedensnobelpreis-Träger Dmitri Muratow erklärt wenig später: „Wir werden nicht länger in der Lage sein, die Wahrheit über die Kämpfe in der Ukraine zu sagen und beiden Seiten das Wort zu überlassen. Wir werden den Beschuss in den Städten unseres Bruderlandes vorübergehend vergessen müssen.“

Schutzlos gegen Propaganda

„Ich bin schockiert. Nicht nur von den Nachrichten, sondern auch von den Nachrichten über die Nachrichten“, lässt der inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny aus dem Straflager ausrichten. „Bald wird euer Zugang zu Informationen in der Freiheit so sein wie bei mir im Gefängnis. Das heißt: gar keiner.“

Hilfe vor Ort

Die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) will ein Zentrum für Pressefreiheit für gefährdete Journalisten in Lwiw in der Ukraine eröffnen. Dieses werde man „in Kürze“ mit der dortigen Partnerorganisation einrichten. Unter anderem könne man sich dort Schutzausrüstung ausleihen. Das neue Zentrum sei als Anlaufstelle für Reporter gedacht, die finanzielle oder psychologische Hilfe suchten.

Darüber hinaus forderte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr die Bundesregierung auf, auch für flüchtende Medienschaffende aus Russland „unbürokratische Aufnahmeverfahren zu ermöglichen, so wie sie es bereits für ukrainische Journalisten tut“.

Zudem habe ROG begonnen, ukrainischen und russischen unabhängigen Medien dabei zu helfen, die Sperrung von Webseiten durch die Behörden zu umgehen. Um die zensierten Informationen zugänglich zu machen, „spiegele“ man die Webseiten und lege ständig aktualisierte Kopien der Seiten auf den Cloud-Servern großer internationaler Anbieter an. (kna)

Repressionen gegen Medienschaffende seien zwar nicht neu, sagt Schriftstellerin und Journalistin Alissa Ganijewa. „Aber es war die Invasion in der Ukraine, die einen Ausgangspunkt bildete für ein schnelles, hyperbeschleunigtes Wachstum von Unterdrückung und Diktatur im Land.“ Das Verschwinden kritischer Stimmen sei eine „riesige Katastrophe“, beklagt die 36-Jährige. „Russland wurde mit echter Zensur bedeckt.“ Die Folgen seien gravierend: „Millionen von Menschen, die vergiftet sind durch das starke Gift von Putins Propaganda, bleiben nun ohne Gegenmittel zurück.“

Telegram wichtigster Kanal

Vor allem für ältere, nicht Internet-affine Russen wird es zunehmend schwer, sich unabhängig zu informieren. In sozialen Netzwerken veröffentlichen verbliebene kritische Medien Anleitungen zum Einrichten und Nutzen alternativer Verbindungen oder Browser, um ihre blockierten Seiten doch noch aufrufen zu können. Auf Instagram posten Nutzer Listen mit bewährten VPN-Anbietern („Virtual Private Network“) und bieten ihren Mitmenschen Hilfe bei der technischen Umsetzung an.

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Zur wichtigsten Social-Media-Plattform ist vor allem für junge Russen Telegram geworden, wo gesperrte Medien ihre Inhalte weiter verbreiten können. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verfügt hier über einen eigenen Kanal. Telegram-Mitbegründer Pawel Durow erklärte kürzlich, die für viele mittlerweile einzige Informationsquelle auch künftig nicht beschränken zu wollen. „Ich empfehle Nutzern aus Russland und der Ukraine, derzeit misstrauisch zu sein, was die Verbreitung von Daten über Telegram angeht“, teilte Durow aber zugleich mit. „Wir wollen nicht, dass Telegram als Werkzeug zur Verschärfung von Konflikten und zur Aufstachelung von Zwietracht zwischen den Volksgruppen benutzt wird.“ (dpa/EB)

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