Völkerrechtler über den Krieg gegen die Hamas„Aushungern einer Bevölkerung darf kein militärisches Ziel sein“

Lesezeit 5 Minuten
Palästinenser füllen in Gaza City Behälter mit Trinkwasser aus einem Wasserverteilungsfahrzeug auf.

Palästinenser füllen in Gaza City Behälter mit Trinkwasser aus einem Wasserverteilungsfahrzeug auf.

Wie weit darf Israel im Krieg gegen die Hamas gehen? Der Bonner Völkerrechtler Prof. Matthias Herdegen über den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten und die Frage von Blockaden.

Die Hamas hat bei ihrem Massaker weit über 1000 Israelis ermordet – trotzdem muss sich die israelische Führung jetzt ihrerseits Kritik anhören angesichts der vielen zivilen Opfer, die ihr Vorgehen gegen die Hamas kostet. Ist Israels Militäreinsatz trotzdem völkerrechtlich legitim?

Wir sprechen hier vom humanitären Völkerrecht, also dem internationalen Recht in einem bewaffneten Konflikt. Es geht nicht davon aus, dass vergangenes Unrecht, vergangenes Leid mit der zulässigen Reaktion auf einen bewaffneten Angriff in irgendeiner Weise aufgerechnet wird. Wichtig: Israels Vorgehen ist nur zur Selbstverteidigung, zur Abwehr einer existentiellen Bedrohung  gerechtfertigt, nicht als Vergeltung oder im Sinne von Strafaktionen.

Noch schwieriger wird es, weil die Hamas offensichtlich ganz bewusst ihre eigene Bevölkerung daran hindert, den Norden des Gazastreifens zu verlassen.
Matthias Herdegen

Israel steht keinem Staat mit einer regulären Armee gegenüber, sondern einer terroristischen Gruppierung, die ein Territorium in ihre Gewalt gebracht hat. Wie weit ist hier die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten überhaupt möglich?

Das sind gleich zwei schwierige Fragen aus rechtlicher und aus tatsächlicher Sicht. Rechtlich streitet man sich darüber, ob es sich um einen internationalen Konflikt handelt, also einen zwischen zwei Völkerrechtssubjekten, oder um einen zwischen einem Staat und einer Terrororganisation. Allerdings gelten für beide Formen des Konflikts die gleichen Regeln: Nur militärische Objekte dürfen angegriffen werden, gezielte Angriffe auf Zivilisten sind verboten, und die Konfliktparteien müssen alles tun, um sogenannte Kollateralschäden unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Das ist das Gebot der Unterscheidung zwischen einem zulässigen militärischen Ziel und einem zu schützenden zivilen Objekt. Es einzuhalten wird aber massiv dadurch erschwert, dass die Hamas aus der zivilen Deckung heraus agiert. Sie nutzt für sich einen verdichteten städtischen Raum sozusagen als Schild zur Verteidigung und für Angriffe auf Israel. Noch schwieriger wird es, weil die Hamas offensichtlich ganz bewusst ihre eigene Bevölkerung daran hindert, den Norden des Gazastreifens zu verlassen. Das ist seinerseits eine schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts. Leider wird das in Stellungnahmen vieler internationaler Organisationen nicht richtig deutlich.

Aber wenn Israel der kompletten Bevölkerung von Gaza City sagt, sie soll die Stadt verlassen, dann hat das eine Dimension, als ob man eine Million Einwohner von Köln zur Flucht nach Bonn aufriefe. Der Hallenser Politologe Johannes Varwick hat sogar von ethnischer Säuberung gesprochen. Ist so ein Vorgehen noch angemessen?

Bei einem großen Angriff auf die Hamas-Basen gibt es das Problem, dass nicht nur einzelne Gebäude betroffen sind wie früher, als Israel das sogenannten Roof-Knocking praktizierte, also mit nicht explosiven Geschossen auf ein Hausdach zielte, um die Bewohner zu warnen. Das ist bei so einem großen Angriff nicht möglich. Wenn Israel nun der Bevölkerung von Gaza City die Gelegenheit gibt, die Stadt zu verlassen, ist das ganz im Sinne des Schutzes von Zivilisten. Das als ethnische Säuberung oder Massenvertreibung zu bezeichnen ist absurd.

Nun hätten wir durchaus einen Korridor, der nach Ägypten führt, aber Ägypten hat seinerseits Angst vor einem unkontrollierten Zustrom, vielleicht durchmischt mit nachdringenden Hamas-Kämpfern.
Matthias Herdegen

Aber müsste sich Israel nicht zumindest darum kümmern, wie die geflohenen Menschen versorgt werden können?

Das Aushungern einer Bevölkerung darf kein militärisches Ziel sein. Möglichkeiten der Versorgung mit Wasser, medizinischen Gütern und Lebensmitteln sind zu gewährleisten, soweit sie zur Verfügung stehen. Nun hätten wir durchaus einen Korridor, der nach Ägypten führt, aber Ägypten hat seinerseits Angst vor einem unkontrollierten Zustrom, vielleicht durchmischt mit nachdringenden Hamas-Kämpfern. Das macht die Situation nochmals außerordentlich schwierig – auch für Israel.

Sind Blockaden im Krieg überhaupt zulässig?

Die Blockade von bestimmten Gebieten ist ein klassisches Mittel der Kriegführung, aber mittlerweile hat sich im Völkerrecht die Einsicht durchgesetzt, dass sie nicht absolut sein darf. Es muss ein humanitäres Fenster, einen humanitären Korridor für existenziell notwendige Güter geben, also Wasser, Lebensmittel, Arznei.

Beim Wasser hat Israel nachgegeben, Treibstoff und Strom gibt es weiterhin nicht.

Man muss unterscheiden zwischen einer reinen Durchleitung und einer Pflicht des Kriegsgegners, die Güter selbst bereitzustellen – was Israel bei Wasser und Strom ja bisher tat. Diese besondere Situation ist im humanitären Völkerrecht nicht eindeutig geklärt. Zudem gibt es auch Differenzierungen hinsichtlich der humanitären, aber auch der militärischen Bedeutung. Bei Wasser, Lebensmittel, Arznei sind wir ganz nah an einem humanitären Kern. Da haben wir kaum Überschneidungen mit militärischen Belangen. Treibstoff und Strom können auch für militärische Zwecke eingesetzt werden.  Die Zusatzprotokolle zu den Genfer Abkommen sagen: Eine Kriegspartei muss nicht hinnehmen, dass Ressourcen an den Gegner fließen, derer er sich für militärische Zwecke bedienen kann. Das ist eine schwierige Gratwanderung, das müsste man bei Treibstoff und Strom wohl differenziert betrachten – anders als bei den absolut lebensnotwendigen Gütern. Dies ist natürlich wegen der Krankenhausversorgung besonders problematisch.

16.10.2018, Nordrhein-Westfalen, Bonn: Der Jurist Matthias Herdegen steht in einem Park. Der Bonner Staatsrechtler Matthias Herdegen tritt im Dezember auf dem Bundesparteitag der CDU gegen die amtierende CDU-Vorsitzende, Angela Merkel an. Foto: Oliver Berg/dpa

Prof. Matthias Herdegen, Jahrgang 1957, lehrt Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Bonn.

Würden Sie der israelischen Armee insgesamt attestieren, dass sie das humanitäre Völkerrecht beachtet?

Traditionell sehe ich ein – auch im Vergleich mit anderen Staaten – starkes Rechtsbewusstsein bei der israelischen Armee. Israelische Soldaten werden so ausgebildet, dass sie dem Unterscheidungsgebot Rechnung tragen. Das ändert nichts an dem unermesslichen Leiden, dass die Bevölkerung des Gazastreifens durchlebt und wohl weiter durchleben wird. Aber es gibt das hohe Rechtsbewusstsein und die Rechtsprechung des israelischen Obersten Gerichtshofes, der schon in der Vergangenheit immer wieder untersucht hat, ob ein Militärschlag verhältnismäßig war. Die Verhältnismäßigkeit ist ein tragender Grundsatz des humanitären Völkerrechts und wird in Israel stark verinnerlicht, auch wenn es Grenzbereiche geben mag, wo man sich darum streiten muss, ob ein Einsatz noch verhältnismäßig oder schon exzessiv ist. Letzten Endes gilt hier der Maßstab eines vernünftigen Kommandeurs, der auch ein humanitäres Bewusstsein haben muss, also zwischen dem gewünschten militärischen Erfolg und den Folgen für die Zivilbevölkerung abzuwägen hat.

Rundschau abonnieren