Didi rettete am 13. November 2015 hunderte Leben, als drei schwer bewaffnete Männer in der Konzerthalle Bataclan 90 Menschen töteten. JC überlebte knapp. Zehn Jahre später kämpfen beide gegen das Vergessen.
Zehn Jahre nach Bataclan„Ich wollte weitermachen wie vorher"

Paris: Trauernde Menschen zünden am 16.11.2015 vor dem Bataclan Theater in Paris (Frankreich) Kerzen an und legen Blumen nieder.
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Als Didi vor dem Bataclan erscheint, wirkt es wie ein Heimkommen. Per Handschlag und mit Umarmungen begrüßt er die Türsteher, die gerade vor dem Eingang eine Barriere aufstellen. Bald dürften die ersten Gäste für das Konzert eintrudeln. „Alles in Ordnung?“, fragt er. „Ja, Chef“, antworten die Männer gut gelaunt.
Didi, groß gewachsen und ganz in Schwarz gekleidet, führt seit 2004 ein Unternehmen für Sicherheitspersonal. Das Bataclan ist die einzige Konzerthalle, in der er noch ab und zu selbst arbeitet, in die anderen schickt er seine Angestellten. „Mit diesem Ort verbindet mich eine besondere Geschichte, klar.“
Erinnerungen an den Anschlag
Als vor zehn Jahren, am 13. November 2015, drei schwer bewaffnete Männer ins Innere eindrangen, 90 Menschen töteten und mehr als 300 weitere verletzten, war er hier. Und zwar in einer entscheidenden Rolle. „Der Ermittlungsrichter hat mir später gesagt, dass es ohne mein Eingreifen ein paar hundert Tote mehr gegeben hätte.“
Der 45-Jährige spricht ruhig und sachlich. Er gibt kaum Interviews und wenn, dann nur ohne Foto und Nennung seines Nachnamens. Er ist Sohn algerischer Einwanderer und erhielt im Mai 2016 mit Unterstützung von Überlebenden des Anschlags die französische Staatsbürgerschaft. Doch auch das erwähnt er nicht. „Ich brauche den Medienrummel nicht“, sagt er, während er an einem Tisch im „Grand Café Bataclan“ an seiner Cola nippt. „Ich habe einfach instinktiv gehandelt, ohne nachzudenken.“

Die US-Rockband „Eagles of Death Metal“ tritt am 13. November 2015 im Pariser Konzertsaal Bataclan auf – wenige Augenblicke bevor die ersten Schüsse fallen. afp
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Im Nachhinein fragte er sich, ob er sich derart in Gefahr begeben hätte, wenn er gewusst hätte, dass er Vater werden sollte. Das erzählte ihm seine Frau erst am nächsten Tag. Seine Tochter, das älteste seiner inzwischen drei Kinder, ist im Juni 2016 geboren – sieben Monate nach jenem Freitagabend.
Das schicksalhafte Konzert
Es ist 21.47 Uhr am 13. November 2015 und das Konzert der US-Band „Eagles of Death Metal“ in vollem Gang, als dumpfe Schüsse der fröhlichen Party ein fürchterliches Ende setzen. 1600 Menschen sind zu diesem Zeitpunkt im Bataclan. Die Musiker retten sich hinter die Bühne und von dort auf die Straße, während die Attentäter im Inneren ein Blutbad anrichten.
Zwei von ihnen steigen in den ersten Stock hinauf, nehmen elf Geiseln und zielen aus dem Fenster auf Fliehende. Der Dritte tötet von der Bühne aus weitere Menschen, bis ihn ein Polizeikommandant, der auf eigene Faust eingedrungen ist, niederschießt. Der Sprengstoffgürtel des Täters explodiert. Erst Stunden später beendet ein Sonderkommando der französischen Polizei mit einem Sturmangriff den Horror. Am Ende sind alle drei Terroristen tot.
Didis mutiger Einsatz
Didi war zu diesem Zeitpunkt längst mit der Bergung von Verwundeten beschäftigt. Er hatte die Täter mit ihren Kalaschnikows ankommen sehen. „Das gab mir ein paar Sekunden Vorsprung, ich bin sofort rein, um eine Sicherheitstür zu öffnen“, erzählt er. Durch sie entkam „eine erste Welle“ von Konzertbesuchern. Didi selbst fand sich am Boden zwischen Menschen, darunter Toten und Verletzten, wieder.
Als die Mörder ihre Gewehre nachluden, rannte er zu einem weiteren Notausgang, um ihn aufzumachen. Auch danach floh er nicht, sondern brachte Verletzte in ein gegenüberliegendes Studentenwohnheim. Eine Hochschülerin hatte es geöffnet, während alle anderen Anwohner voller Angst ihre Türen geschlossen hielten. Von Didis Personal überlebten alle, doch kein einziger wollte mehr im Bataclan arbeiten. Er musste neue Leute finden, blieb selbst aber dabei. „Ich wollte weitermachen wie vorher, damit der Anschlag nicht mein Leben ändert“, sagt Didi. „Sonst wäre es eine Art Sieg für die gewesen.“ Dass er so in Aktion war, habe ihm wohl geholfen, das Trauma zu verarbeiten.
Ein Trauma war der Abend für ganz Paris. Ein in drei Gruppen aufgeteiltes Mordkommando verübte parallel Anschläge auf mehrere Ziele. Vor dem Fußballstadion Stade de France im Vorort Saint-Denis, wo sich die deutsche und die französische Mannschaft ein Freundschaftsspiel lieferten, sprengten sich drei Angreifer in die Luft und rissen einen Mann mit in den Tod.
Die Rolle des Islamischen Staates
Während drei Terroristen im Bataclan mordeten, erschoss eine weitere Dreier-Gruppe insgesamt 45 Menschen auf den Außenbereichen von Cafés und Restaurants im Osten von Paris, einem lebendigen Ausgehviertel. „Das ist ein Kriegsakt, begangen von einer Terroristen-Armee“, sagte der französische Präsident François Hollande damals tief erschüttert.
Es handelte sich um einen langwierig vorbereiteten Anschlag, in Auftrag gegeben von Angehörigen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien. Zwei der Attentäter, darunter einen der mutmaßlichen Drahtzieher, und eine Vertraute starben wenige Tage später bei einem Polizei-Angriff auf ihr Versteck in Saint-Denis. Von den zehn direkt beteiligten Männern überlebte nur einer: Salah Abdeslam hatte drei Täter mit einem Mietauto zum Bataclan gefahren, das er zurückließ.
Er selbst tötete niemanden, sondern ihn holten noch in der Nacht Freunde ab. Er tauchte in der Brüsseler Gemeinde Molenbeek, seinem Heimatort, unter. Im März 2016 wurde er dort verhaftet. Seine Terror-Zelle verübte vier Tage später zwei Anschläge in der belgischen Hauptstadt mit 32 Toten und mehr als 300 Verletzten.
Europäische Sicherheitsmaßnahmen
In den nächsten Jahren folgten weitere Attacken in ganz Europa, von Nizza über Berlin bis Manchester, verübt von Einzeltätern oder kleinen Gruppen. Sie waren nicht durchorganisiert wie die Pariser Attentatsserie. Als Konsequenz daraus wurden die französischen Sicherheits- und Geheimdienste reformiert, um besser zusammenzuarbeiten.
Ein Programm für die effizientere Überwachung von Rückkehrern aus Syrien und dem Irak entstand. Auf europäischer Ebene gab es Verbesserungen bei der gemeinsamen Antiterror-Arbeit, etwa hinsichtlich des Austauschs von Informationen über Täter oder Gefährder. Daran hatte es bis dahin gehakt.
Auch Paris veränderte sich durch die Anschläge. Jahrelang galt die höchste Terrorwarnstufe. Besonders sensible Gebäude, wie jüdische Institutionen oder Touristenmagnete, erhielten besonderen Polizeischutz. Sicherheitspersonal beispielsweise vor Kaufhäusern wurde zur Normalität.
Es war eine prägende Erfahrung, Zielscheibe von Terroristen geworden zu sein, die das schlagende Herz der Stadt angriffen: die Lebens- und Ausgehfreude, die Lust am Fußball, an Musik. Die 132 Todesopfer hatten 17 verschiedene Nationalitäten, gehörten allen Religionen und Altersstufen an, auch wenn sie überwiegend jung waren: im Schnitt 35 Jahre alt.
Urlauber trieb die Frage um, ob Paris als Reiseziel zu gefährlich sei. Manche Bewohner mieden die Metro, scheuten die Massen. Gastronomen klagten über den Rückgang der Gästezahlen. Um dem entgegenzuwirken, erinnerte das Rathaus von Paris an die alte Devise der Stadt: „Fluctuat nec mergitur“ – „Sie schwankt, aber sie geht nicht unter“. Ein Café mit diesem Namen eröffnete auf dem Platz der Republik, unweit der Tatorte. Inzwischen gibt es ein Erinnerungs-Mahnmal in Form eines Gartens hinter dem Rathaus. Zum zehnten Jahrestag organisiert die Stadt Ausstellungen und Konferenzen, eine Freske entsteht an einer Mauer.
Gemeinschaft trotzt dem Terror
Während sich die einen zurückzogen, gingen andere bewusst weiter aus. Die getroffenen Bars und Cafés öffneten wieder, ebenso wie das Bataclan nach umfassenden Umbauarbeiten. „Wir haben nicht zugelassen, dass sie das zerstören, was wir lieben“, sagt Jean-Claude Parent, kurz JC. „Indem ich weiter Konzerte besuche, ist es, als würde ich denen den Stinkefinger zeigen, die uns davon abhalten wollten.“ Auch wenn er, wie er zugibt, beim Betreten eines Konzertsaals immer nach den Notausgängen sieht.
Der 69-Jährige war an jenem Abend im Bataclan und entkam dem Anschlag dank Didi unverletzt. Er weiß noch genau, neben welcher Säule er sich befand, als die Attentäter kamen. Im Beton fanden sich später mehrere Einschusslöcher. Erst beim Prozess im Jahr 2021 erfuhr er, dass die beiden Personen, die neben ihm gestanden hatten, ermordet wurden. Warum waren sie tot und er lebte? Es war eine der Fragen, die ihn lange quälten.
JC trägt eine getönte Brille, Tattoos, Silberringe an den Fingern, mehrere Tattoos und Bänder am Handgelenk. „Amour“, „Liebe“, steht auf einem davon. Auf einem Oberarm prangt das Motiv des Gemäldes, das der Künstler Banksy nach dem Attentat an der Tür des Bataclan angebracht hat: ein traurig nach unten blickendes Mädchen.
Unterstützung in der Tragödie
Über Opfervereinigungen kennt er die meisten derer, die die Attentate überlebt haben. Eine feste Gruppe von ihnen trifft sich regelmäßig, JC nennt sie „die Familie“. Schöne Momente wie Hochzeiten und Geburten feiern sie gemeinsam, bei den schweren stützen sie einander.
Im Mai hat sich einer von ihnen, der Graphiker Fred Dewilde, das Leben genommen. „Das war ein Schock für uns“, sagt JC. Jeder gehe anders mit dem Erlebten um. Manche überwinden es besser als andere. Viele konnten nicht mehr arbeiten, haben sich getrennt, sind weggezogen. Und manche überwinden es nicht. Fred war der dritte Überlebende der Attentate, der Suizid begangen hat.
Der lange Schatten des Prozesses
Auch den Prozess 2021 stand die „Familie“ gemeinsam durch. Angeklagt waren 20 Männer, davon sechs in Abwesenheit. Das Hauptaugenmerk der Öffentlichkeit lag auf Salah Abdeslam, der zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt wurde. Bei der monatelangen Verhandlung wurden die Gräueltaten minutiös aufgearbeitet.
Hinterbliebene und Überlebende berichteten, wie tief sie getroffen wurden, wie schwer der Verlust ist, wie hart der Kampf ums Weitermachen. Aber auch, wie groß die Liebe zu jenen bleibt, die brutal aus dem Leben gerissen wurden – ein krasser Gegensatz zum dumpfen Hass der Täter und ihrer Helfershelfer.
JC sagte nicht aus. Aber er spricht bei anderen Gelegenheiten von dem Erlebten: vor Schülern, Auszubildenden oder Gefängnisinsassen. Erst erzählt er, dann hört er zu, fragt, argumentiert. „Ich bin antireligiös, aber ich glaube an den Menschen“, betont er, der vor seiner Rente im Ausbildungsbereich gearbeitet hat. „Ich empfinde weder Hass noch Wut für die Angreifer, ich würde nur gerne verstehen, warum sie so gehandelt haben.“ Ganz gelungen ist ihm dies nicht, wie er sagt. Aber JC macht weiter.

