Folter und Mord in russisch besetzten ukrainischen Gebieten„Ich werde ihre Schmerzensschreie nie vergessen“

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Nach der Befreiung der ukrainischen Stadt Isjum öffnen Helfer die Gräber von Opfern, die im Wald verscharrt wurden.

Nach der Befreiung der ukrainischen Stadt Isjum öffnen Helfer die Gräber von Opfern, die im Wald verscharrt wurden.

Ein Fünftel der Ukraine ist russisch besetzt. Wie ergeht es dort Zivilisten, die den Okkupatoren verdächtig erscheinen? Zeugenaussagen dokumentieren eine Serie schwerer Besatzungsverbrechen.

Sie griffen ihn auf der Straße auf, verhörten und ihn verlangten, dass er zugeben sollte, ein Nazi zu sein und Russen getötet zu haben. Sie verhüllten sein Gesicht, brachten ihn in eine Zelle und fesselten ihn auf einen Stuhl. Sie drohten ihm, seine Finger abzuschneiden, eine Arterie zu öffnen und verbluten zu lassen. „Als sie anfingen, meine Daumen zu verbrennen, und mich in den Nacken traten, verlor ich das Bewusstsein“, schildert Zeuge 158 seine Misshandlung im März 2022, im damals russisch besetzten Umland von Kiew. Und: „Als ich aufwachte, begann alles wieder von vorn.“

Keine Exzesstaten, sondern systematische Folter

Zeuge 158, so wird er anonymisiert im letzten Jahresbericht der auf Opferbefragungen spezialisierten Organisation „Yahad-in Unum“ genannt, ist einer von über 300 Betroffenen, deren Aussagen bisher von den Yahad-Mitarbeitern gesammelt wurden. „Wir sehen, diese Verbrechen gibt es überall“, sagt der Kölner Rechtsanwalt Andrej Umansky, Mitarbeiter der Organisation: „Es sind keine Exzesstaten einzelner Einheiten, sondern es passiert überall, wo Orte besetzt sind. Das führt zu der Annahme, dass das eine Strategie ist, um Druck auf die Zivilbevölkerung auszuüben.“ Zu Aussagen von Leuten wie Sahra Wagenkecht, nach deren Auffassung Kriege halt immer mit Kriegsverbrechen verbunden sein, weist Umansky darauf hin, dass die Verbrechen weit hinter der Front geschähen. Auch an Kindern und Jugendlichen. Besatzungsverbrechen, um die Bevölkerung okkupierter Gebiete. Umansky: „Es geht einfach darum, dass die Leute aufgeben und nicht mehr daran glauben, dass ihre Gebiete wieder ukrainische werden.“

Seine Diagnose wird durch eine von den UN eingesetzte Untersuchungskommission bestätigt. Die russischen Besatzungsbehörden wendeten in großem Umfang Folter an, gegen Männer wie gegen Frauen, so die Kommission in ihrem letzten Bericht. „Frühere Häftlinge berichten von speziellen Verhör- und Folterräumen.“ Und, ganz wesentlich: „Die Kommission hat herausgefunden, dass ähnliche Foltermethoden in verschiedenen Hafteinrichtungen benutzt wurden, die sie untersucht hat.“ Also ein systematisches Vorgehen.

Zeuge 158 wurde nach seiner Festnahme im März 2022, im damals russisch besetzten Teil des Gebiets Cherson, gefoltert. Aber auch spätere, noch nicht veröffentlichte Aussagen aus Interviews von „Yahad-in Unum“, die der Rundschau vorliegen, bestätigen ähnliche Praktiken. Einem 54-Jährigen aus Kupjansk zogen seine Peiniger im August 2022 einen Sack über den Kopf und schlugen ihn. Einen 42-Jährigen, der kurz vor der Befreiung Chersons im Herbst 2022 festgenommen wurden war, misshandelte russische Besatzer mit einer Elektroschock-Pistole und verabreichten ihm Stromschläge über Elektroden, die sie im Intim- und Analbereich angebracht hatten.

„Immer wenn ich sagte, ich wisse etwas nicht oder ich könne mich nicht erinnern, gaben sie mit Elektroschocks“, heißt es auch in einem von den UN zitierten Opferbericht. Und ein Mann hat den UN-Ermittlern berichtet, dass er in einer Nachbarzelle eingesessen habe, während seine Frau gefoltert wurde: „Ich werde ihre Schmerzensschreie nie vergessen.“ Und im Polizeiquartier der russisch besetzten ukrainischen Stadt Nowa Kachowka war allen Insassen klar, was es bedeutete, wenn ein weißer Bus ankam: Der Bus brachte Mitarbeiter des Geheimdienstes FSB. „Das hieß, Leute würden gefoltert werden.“ Hinzu kämen Scheinhinrichtungen, simuliertes Ertränken, Zwangsinhalationen und Injektionen – in zwei von den UN dokumentierten Fällen mit Todesfolge.

Vergewaltigungen als Teil von Razzien

Sowohl die UN als auch „Yahad-in Unum“ berichten von sexueller Gewalt. Teils dienen Vergewaltigungen oder die Drohung mit solchen Taten als Foltermittel: Einer jungen Frau drohten ihre Vernehmer laut UN-Bericht eine Gruppenvergewaltigung an, einem Mann wollten sie die Genitalien abschneiden, wenn er nicht aussage. In einem anderen, von Amnesty International aufgegriffenen Fall blieb es nicht bei der Drohung: Ein Video zeigt die Kastration eines ukrainischen Kriegsgefangenen durch russische Soldaten.

Auch bei russischen Razzien in den besetzten Gebieten gehören Vergewaltigungen zum Standard. „Meist passierte es, nachdem die Täter in die Häuser eingebrochen waren“, so der UN-Bericht. Opfer waren häufig Frauen, die nicht hatten fliehen können, sich um kleine Kinder oder behinderte Angehörige kümmerten. Eine 83-Jährige ebenso wie ein 16-jähriges Mädchen.

Der russische Deserteur Nikita Chibrin hat schon Ende 2022 gegenüber dem US-Sender CNN von einem direkten Mordbefehl berichtet, der an seine Einheit im Raum Kiew gegangen sei: „Wenn jemand ein Telefon hatte, durften wir ihn erschießen.“ Das Ausmaß der von Chibrin und seinen Kameraden begangenen Verbrechen wurde im April 2022 nach der Befreiung von Butscha und anderen Kiewer Vororten deutlich. Teils lagen Leichen auf den Straßen, teils waren sie verscharrt – über 1200 Tote insgesamt allein in dieser Region. Nach der Befreiung von Isjum im Herbst 2022 waren es fast 500 Tote, fast alle Zivilisten, Männer und Frauen, sieben Kinder. Mehr als 50 der exhumierten Leichen wiesen nach ukrainischer Darstellung Folterspuren auf – und insgesamt dürften in Isjum noch weit mehr Menschen ums Leben gekommen sein. Die lokalen Behörden gehen von über 1000 Toten aus.

Topografie des Verbrechens

Die Suche nach Tatorten – einschließlich Hinweisen auf noch unbekannte Gräber – ist eines der zentralen Anliegen von „Yahad-in Unum“. „Wir arbeiten die Topografie des Verbrechens auf“, sagt Umansky. „Als Russland die Ukraine überfiel, war es für unseren Gründer Pater Patrick Desbois und auch für mich keine Frage, dass wir dort tätig werden müssen.“ Die Organisation macht, was sie am besten kann: Zeugenaussagen sammeln (siehe Kasten).  Erst per Videokonferenz, dann auch durch persönliche Interviews vor Ort, etwa im Herbst 2023 in Cherson: „Wir haben mehrere solcher Zivilisten vor Ort in dem Untersuchungsgefängnis interviewt, in dem sie gefoltert wurden. Diese Menschen haben uns zeigen können, in welcher Zelle sie festgehalten worden sind, wo der Folterraum war, wer sich im Tagesverlauf wo aufhielt.“ Was die Yahad-Leute immer wieder berichten: Die Opfer wollen berichten. „Ich erinnere mich an eine Frau aus Mariupol, die mehrere Stunden reden musste, ohne dass wir Fragen stellten“, hatte Pater Desbois im letzten August der FAZ erzählt. Umansky meint: „Wir haben nicht das Problem, dass wir die Menschen erst zum Reden bringen müssen. Es ist umgekehrt, die Menschen bitten uns, ihre Aussagen zu verwenden, damit endlich Gerechtigkeit geschieht.“

Die Topografie des Verbrechens lässt sich am Ort selbst rekonstruieren, wo die Ukraine Gebiete befreien konnte. Aber immer wieder schlagen sich Zivilisten aus dem besetzten Territorium in die freie Ukraine durch. „Und viele Ukrainer haben Kontakt zu Angehörigen, die unter russischer Besatzung leben“, sagt Umansky. „Ein weiteres Thema sind ehemalige Kriegsgefangene: Sie wurden zum Teil in schlimmsten Gefängnissen untergebracht, sind schlimm behandelt worden und berichten darüber, wenn sie durch einen Austausch zurückkehren.“ Immer wieder vereinbaren die Ukraine und Russland den Austausch von Gefangenen, und die Bilder von ukrainischen Rückkehrern zeigen völlig ausgemergelte Männer. Auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) hat „konsistente Muster von Folter und Misshandlung“ von Kriegsgefangenen in russischem Gewahrsam festgestellt, dazu mangelhafter Unterbringung, zu wenig Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung. „Ich war die ganze Zeit hungrig“, berichtete ein Ex-Gefangener dem OHCHR: „Du isst, aber es ist, als hättest du nichts gegossen. Ich wog 106 Kilo und wiege jetzt noch 75.“

Russische Führung spricht offen über Deporatationen

Ein weiteres Thema: Deportationen. Russland bekennt sich offen dazu. So hat der von Russland eingesetzte Gouverneur im besetzten Teil des Gebiets Saporischschja, Jewgenij Balitskij, hat am 20. Februar 2024 erklärt, dass seine Leute „eine große Zahl von Familien“ aus ihren Wohnorten vertrieben hätten, die die sogenannte „Militärische Spezialoperation“ nicht unterstützt oder Russland beleidigt hätten. Dmitri Medwedew, Chef des russischen Sicherheitsrates, forderte unmittelbar vor dem Jahrestag des russischen Überfalls Deportationen von Ukrainern nach Sibirien. Umgekehrt siedelt Russland eigene Bürger zum Beispiel im eroberten Mariupol an – wie schon seit 2014 etwa auf der Krim. Ein Muster, das es schon zu Sowjetzeiten gab, etwa im Baltikum oder, soi Umansky, im annektierten östlichen Teil Polens. Die russische „Kinderrechtsbeauftragte“ Maria Lwowa-Belowa trat im März 2023 gemeinsam mit Präsident Wladimir Putin im russischen Staatsfernsehen auf und rechtfertigte die Verschleppung von Kindern, einen Jungen hatte sie selbst adoptiert. Ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof gegen Putin und Lwowa-Belowa war die Folge.

Zehntausende Tote und Vermisste

Es ist schwer, die Dimensionen der russischen Verbrechen in Zahlen zu fassen. Nach Angaben von Serhii Lukashov, dem Leiter der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine, wurden bis zum Sommer 2023 über 19 000 ukrainische Kinder verschleppt, die Organisation „Children of War“ nennt aktuell 19 546 deportierte und 2134 vermisste Kinder. 388 Kinder seien zurückgekehrt. Das für die Rückführung von Kriegsgefangenen und Deportierten zuständige „Nationale Informationsbüro“ der Ukraine sprach im Oktober 2023 von 26 000 vermissten Personen, darunter 11.000 Zivilisten.

Das OHCHR hat den Tod von 10 378 ukrainischen Zivilisten dokumentiert, darunter 579 Kinder. Unicef spricht dagegen von mindestens 1280 Tote getöteten Kindern allen bis Dezember 2022. Zivilisten starben teils durch Bomben- und Artillerieangriffe auf zivile Ziele, teils durch Massaker wie in Butscha. Aber das dürfte nur ein Bruchteil der Opfer sein. Allein in Mariupol könnten nach ukrainischer Schätzung 25 000 Zivilisten ums Leben gekommen sein. Luftaufnahmen von Massengräbern lassen eine Abschätzung so einer Größenordnung zu, für eine unabhängige Untersuchung ist die Stadt nicht zugänglich. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen lebendig begraben wurden, als die Russen das Theater bombardierten, in dem sie Schutz gesucht haben. Die Stadt ist russisch besetzt, die Besatzer haben den Tatort planiert“, sagt Umansky. „Und in den Dörfern wurden viele zu Tode gefolterte Menschen in Massengräber gebracht. Auch hier sind viele noch unbekannt. Von vielen Menschen wissen wir nicht, ob sie noch leben, ob sie nach Russland verschleppt wurden, ob sie inhaftiert sind – oder tot.“

Stichwort: Das ist Yahad-in Unum

Yahad-in Unum – der Name ist aus dem hebräischen Begriff für „Zusammen“ und dem lateinischen „in einem“ kombiniert – wurde 2004 von dem französischen Priester und Judaistik-Professor (Georgetown University) Patrick Desbois gegründet. Ziel war damals die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Morde an Juden, Sinti und Roma in der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern: Die Organisation wollte und will mit Hilfe von Zeugenaussagen die Tatorte des Massenmordes identifizieren. „Wir haben eine eigene Befragungsmethodik entwickelt und sind dann gebeten worden, auch andere Fälle von Völkermord und Massengewalt aufzuklären. In Guatemala, dann auch im Irak“, berichtet der in Kiew geborene Kölner Anwalt Andrej Umansky, der Mitgründer und Mitarbeiter der Organisation. Die Aufarbeitung russischer Kriegs- und Besatzungsverbrechen in der Ukraine ist die jüngste Aufgabe. (rn)