5 echte FälleWenn junge Menschen töten – ein Jugendpsychiater erzählt

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Was bringt Jugendliche und junge Erwachsene dazu, andere Menschen umzubringen?

  • Manche Jugendliche entwickeln eine extreme Gewaltbereitschaft und schrecken sogar vor einem Mord nicht zurück.
  • Wie kann es soweit kommen, was treibt sie an?
  • Der Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt beschreibt in seinem Buch „Wenn junge Menschen töten“ 23 echte Fälle. Lesen Sie hier eine Auswahl.

Köln – Es ist schwer vorstellbar, dass Jugendliche und junge Menschen andere töten, doch es passiert immer wieder. Es gibt geplante Morde, Tötungsdelikte in der Gruppe, Beziehungstaten, Tötungen unter Alkoholeinfluss oder unter dem Einfluss einer paranoiden Psychose. Es gibt nicht nur den gewaltbereiten, kriminellen Jugendlichen, der zunehmend auf die schiefe Bahn gerät oder unter einer manifesten psychiatrischen Erkrankung leidet, es gibt auch den Täter aus geordneten Verhältnissen. Helmut Remschmidt, emeritierter Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie der Philipps-Universität Marburg hat zahlreiche Untersuchungen zur Tatmotivation und zur Begutachtung und Prognose jugendlicher Gewalttäter vorgelegt. In seinem Buch „Wenn junge Menschen töten. Ein Kinder- und Jugendpsychiater berichtet“ beschreibt er anhand verschiedener Fälle, wie man schwere Gewalttaten junger Menschen erklären kann.

Im ersten Teil beschäftigt er sich im Buch mit den Ursachen und Entstehungsbedingungen gewalttätigen Verhaltens. Im zweiten Teil werden 23 schwerwiegende Straftaten beschrieben, die vor Gerichten verhandelt und sanktioniert wurden. Die weitgehend anonymisierten Fallgeschichten repräsentieren ein breites Spektrum von Konstellationen, unter denen es zu einem Tötungsversuch oder zu einer vollendeten Tötung kommen kann. Im dritten Teil geht es um die Frage, wie man die Gewalttätigkeit junger Menschen reduzieren kann.

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Hier eine Auswahl der beschriebenen Fälle:

Ein 20-Jähriger bringt seine Eltern und seine achtjährige Schwester um

Der Fall: Der 20 Jahre alte E. kommt nach einem Kinobesuch nach Hause und tötet seine ganze Familie im eigenen Haus. Er benutzt dazu ein Küchenbeil und ein Messer. Seine Mutter und Schwester befinden sich im Schlafzimmer, der Vater ist im Wohnzimmer auf dem Sofa eingeschlafen. E. schlägt mit dem Beil auf den Kopf des Vaters ein und sticht mit dem Messer zu. Als die Mutter ins Wohnzimmer kommt, schlägt er auch auf sie mit dem Beil ein und sticht mit dem Messer zu, bis sie bewusstlos zu Boden fällt. Auch auf den Vater sticht E. ein weiteres Mal ein, bis beide Eltern endgültig aufhören zu atmen. Nach der Tat setzt er sich hin und atmet durch. Anschließend geht er ins Schlafzimmer zu seiner acht Jahre alten Schwester. Aus seinem Schuh entfernt er den Schnürsenkel, legt ihn der Schwester um den Hals und zieht zu. Zusätzlich drückt er das Kissen auf ihr Gesicht, bis sie nicht mehr atmet.

Nach der Tat wäscht er sich und zieht sich um. Dann legt er sich ins Bett und schläft bis zum nächsten Morgen um 9 Uhr. Er putzt ein wenig die Wohnung und überlegt, wie er die Leichen beseitigen kann. Er findet die Zeit, mit der Kreditkarte seines Vaters in der Stadt neue Anziehsachen zu kaufen. Am nächsten Tag zersägt er den Leichnam seiner Schwester, verpackt die einzelnen Teile in Tüten und legt sie in ein Gebüsch. Die Leichen der Eltern verpackt er in Bettlaken und legt sie in ihren Schlafzimmerschrank. Immer wieder ruft die Großmutter an und fragt nach den Eltern. Zunächst sagt E., er wisse es nicht, aber als seine Großmutter eine Vermisstenanzeige aufgeben will, erzählt er ihr, dass er die Leichen der Eltern im Schlafzimmerschrank gefunden habe. Die Großmutter ruft daraufhin die Polizei. E. gesteht auf dem Polizeirevier, seine Eltern umgebracht zu haben.

Hintergrund: Etwa eineinhalb Jahre vor der Tat sei E. zum ersten Mal der Gedanke gekommen, seine Eltern zu töten. Einen konkreten Anlass habe es nicht gegeben, der Gedanke habe sich langsam aufgebaut. Nach dem Kinobesuch sei ihm der Impuls gekommen, die Tat nun auszuführen. Als Kind verbringt E. die meiste Zeit bei seinen Großeltern und kommt eigentlich nur zum Schlafen ins Haus der Eltern. Er ist viel für sich und kann schlecht Freundschaften schließen. Als er zwölf Jahre alt ist, wird seine Schwester geboren, auf die er zunächst eifersüchtig ist. Mit etwas 15 Jahren zieht E. sich immer weiter zurück und gilt auch in der Schule als isoliert. E. gibt an, in seiner Familie am meisten darunter gelitten zu haben, dass es keine Beziehungen untereinander gegeben habe. Er bezeichnet das Verhältnis zu seinen Eltern als absolutes Nichtverhältnis. Außerdem habe die Mutter zu viel getrunken und der Vater sich einer anderen Frau zugewandt. E. gibt seinen Eltern die Schuld daran, in einem Zustand geradezu „mystischer Einsamkeit und Leere“ gelebt zu haben. Niemand habe je nach ihm gefragt oder sich um ihn gekümmert.

Das Urteil: Das Landgericht verurteilt E. wegen Mordes in drei Fällen zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und sechs Monaten. Außerdem wird die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. 

Ein 19-Jähriger bringt eine fremde Frau um, die ihn an seine Verlobte erinnert

Der Fall: Der 19 Jahre alte H. befindet sich zum Zeitpunkt der Tat in stationärer Behandlung einer jugendpsychiatrischen Klinik und ersticht eines Tages eine ihm völlig unbekannte Frau, die ihn an seine Verlobte B. erinnert. Die Verlobte hatte ihn einige Monate zuvor wegen eines anderen Mannes verlassen. Bereits zwei Jahre zuvor hat er eine ähnliche Tat ohne tödlichen Ausgang begangen. Damals stach er plötzlich und ohne Vorankündigung auf seine Pflegemutter ein. In beiden Fällen ist ein plötzlicher Kontrollverlust mit Gewaltimpulsen gegen Frauen verbunden. Beide Male macht er die Frauen für seine persönliche desolate Situation verantwortlich. 

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Oft wird für die Tat ein Messer benutzt. 

Am Tag der Tat ist H. deprimiert und hat Suizidgedanken. Er plant außerdem die Flucht aus der Klinik. Das Messer, das später zur Tatwaffe wird, hat er bereits einige Tage bei sich. Er streitet ab, es als Angriffswaffe besorgt zu haben. Weil er überlegt zu fliehen, hält er sich einige Zeit in einem Wald in der Nähe der Klinik auf. Hier kommt die junge Frau vorbei, die ihn an seine Verlobte B. erinnert. In dieser Situation kommen plötzlich seine Rachegedanken gegen B. hoch, er vergisst für einen Augenblick seine Suizidgedanken. Ihm wird warm. Er geht der Frau nach und es überkommt ihn plötzlich der Impuls, mit dem Messer auf sie einstechen zu müssen. Normalerweise hat er eine große Scheu, auf Menschen zuzugehen. Er hält die Frau von hinten fest, hält ihr den Mund zu, reißt sie zu Boden und sticht mit dem Klappmesser auf sie ein. Außerdem fasst er ihre Brüste und ihre Scheide an. Als die Frau aufsteht und wegrennen will, sticht er noch einmal von hinten zu und verschwindet dann vom Tatort. 

Hintergrund: H. wächst unter extrem ungünstigen Bedingungen auf. Die ersten Jahre verbringt er mit seiner Schwester bei der Großmutter, kommt dann in ein Kinderheim und schließlich in eine Pflegefamilie. Seine Eltern kennt er nicht. Mit 16 verbringt er wegen ausgeprägter Depressionen und Selbstmordgedanken drei Monate in einer kinderpsychiatrischen Klinik. Anschließend geht er zurück in seine Pflegefamilie und sticht auf seine Pflegemutter ein. Danach wird er in die geschlossene Abteilung eines psychiatrischen Landeskrankenhauses verlegt. 

Das Urteil: H. wird wegen Mordes in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Jugendstrafe von acht Jahren verurteilt. Ferner wird die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Eine 17-Jährige bekommt „überraschend“ ein Baby und setzt es direkt nach der Geburt aus. Das Baby stirbt.

Der Fall: Die 17-jährige T. hat angeblich nicht bemerkt, schwanger zu sein und gibt an, dass „eines Tages nach dem Duschen einfach ein Baby in der Wanne gelegen habe“. Sie trennt die Nabelschnur mit einer Schere ab, wickelt den Säugling in ein Handtuch, geht damit aus dem Haus und legt das Baby auf das Nachbargrundstück. Das Kind habe nicht geschrien, sie könne sich auch nicht erinnern, ob es die Beine oder Arme bewegt habe. Sie wisse auch nicht, ob es geatmet habe. Anschließend kehrt T. heim, macht die blutverschmierte Dusche sauber und geht schlafen. Einen Tag später wird das Baby tot gefunden. 

Weil ihr am nächsten Tag übel ist, schickt die Mutter sie nicht zur Schule, sondern zum Arzt. Der bemerkt nicht, dass T. kurz zuvor ein Kind geboren hat. In einer nachfolgenden Untersuchung im Krankenhaus stellt eine Frauenärztin jedoch fest, dass der Uterus noch vergrößert, der Muttermund geöffnet und die Brüste mit Milch gefüllt waren. Die Frauenärztin verständigt die Polizei, T. wird einem Haftrichter vorgeführt, darf aber wieder nach Hause gehen. Der Säugling wird eingeäschert und im Grab der Großeltern beigesetzt.

Hintergrund: Das Mädchen T. stammt aus erster Ehe, die Mutter heiratet anschließend neu und bekommt noch zwei Kinder mit einem anderen Mann, der T. adoptiert. Von ihrer Mutter wird T. als ruhiges Kind beschrieben, das keine Probleme bereite. Eine sexuelle Aufklärung habe sowohl in der Schule als auch zuhause stattgefunden. Mit ihrem Freund ist T. seit zwei Jahren zusammen, mittlerweile wohnt er auch bei ihr und ihrer Familie. Ihre Schwangerschaft habe sie nicht bemerkt und sie sei auch in ihrer Familie nicht wahrgenommen worden. Beim Sex hätten sie immer Kondome benutzt, es habe auch keine Beschwerden gegeben, die auf eine Schwangerschaft hätten hindeuten können. Außerdem habe sie weiterhin ihre Tage gehabt. An Gewicht habe sie nur wenig zugelegt. 

In der psychiatrischen Untersuchung wird T. als scheu, schüchtern und etwas langsam beschrieben. Das Mädchen wirke außerdem insgesamt und auch der Tat gegenüber gleichgültig und ohne Gefühle, urteilen die Psychiater und Psychologen. Insgesamt ergebe sich das Bild einer zurückhaltenden, auf die Einhaltung sozialer Regeln bedachten, wenig dynamischen Persönlichkeit, die im Kontaktbereich gehemmt sei und jünger wirke als sie ist. Außerdem wird eine leicht unterdurchschnittliche Intelligenz attestiert. 

Das Urteil: Das Landgericht verurteilt T. wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Die Angeklagte habe vorsätzlich einen Menschen getötet. Die Angeklagte habe sich schuldhaft in diese Situation gebracht, indem sie die Schwangerschaft auch vor ihrem Freund und ihrer Familie verheimlichte und nicht um Hilfe bat.

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Eine 15-Jährige versucht aus extremer Geschwister-Rivalität, ihre Schwester umzubringen

Der Fall: J. ist zum Zeitpunkt der Tat 15 Jahre alt. Ihre Eltern sind getrennt. Zum Opfer wird ihre 17-jährige Schwester K.. J. schneidet sie mehrmals mit einem Messer in der Absicht, sie umzubringen, doch K. überlebt. 

Hintergrund: Sowohl J. selbst als auch ihre Eltern berichten von jahrelangen Rivalitäten und Auseinandersetzungen zwischen den Schwestern sowie zwischen J. und der Mutter. J. und K. waren von Anfang an sehr unterschiedliche Schwestern: K. eher dominant und impulsiv, J. eher ruhig und unauffällig. Im Alter von 13 Jahren fängt J. damit an, sich zu ritzen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Es fällt der Satz gegenüber der Mutter: „Muss ich mich denn genauso verhalten wie K., damit du mir auch Aufmerksamkeit schenkst?“ 

Als die Mutter nach der Trennung mit den Mädchen in eine eigene Wohnung zieht, wird K. zunehmend aggressiv J. gegenüber, beschimpft auch die Mutter oder wirft Gegenstände nach ihr. J. kann sich gegen dieses Verhalten nicht wehren. Sowohl die Mutter als auch J. scheinen Angst vor K. zu haben. J. möchte nicht mehr zuhause wohnen.

Von der Tötungsidee bis zur Umsetzung vergehen nur etwa vier Wochen. J. kann sich genau erinnern, wie sich der Gedanke entwickelte, endlich ihre Schwester beseitigen zu müssen und wie diese Idee sich nicht mehr abschütteln ließ. Als sie sich zum ersten Mal mit dem Messer in der Hand vor dem Spiegel sieht, hat sie noch zu viel Angst, ihre Idee in die Tat umzusetzen. Zwei Wochen später setzt sie ihren Plan um und schleicht mit einem Schweizer Messer mit einer acht Zentimeter langen Klinge nachts in K. Zimmer. Sie schneidet ihr ein paar Mal in die Schulter, bis K. stark zu bluten anfängt und J. Angst bekommt. K. wird wach und sieht J. mit dem Messer in der Hand. J. läuft davon, flüchtet zu ihrer Vertrauenslehrerin und erzählt ihr alles. Im Einvernehmen mit J. ruft diese die Polizei an, die J. mitnimmt. J. gibt an, die Tat nicht zu bereuen und sorgfältig geplant zu haben, aber sie nicht noch einmal ausführen zu wollen. 

Das Urteil: Obwohl man sie auch wegen eines Mordversuchs hätte verurteilen können, verurteilt das Landgericht J. wegen versuchten Totschlags zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Außerdem soll sie sich psychotherapeutisch behandeln lassen.

Ein 14-Jähriger tötet zwei Kinder nach sexuellem Missbrauch

Der Fall: Der 14-jährige M. trifft den zehn Jahre alten N. auf einem Spielplatz. Er verspürt dem Kind gegenüber ein sexuelles Interesse und lockt den Jungen in eine Garage, wo er ihn in einem Auto einschließt. M. bedrängt den Zehnjährigen, sich auszuziehen und bedroht ihn dabei mit einem Feuerzeug. Er zwingt das Kind zu Oral- und Analverkehr. Als der Junge erzählt, dass sein Vater Polizist ist, beschließt M., das Kind umzubringen. Er würgt ihn bis zur Bewusstlosigkeit und erstickt ihn mit einem Pullover. Nach der Tat geht er nach Hause und verhält sich dort völlig unauffällig. 

Als seine Mutter in der Zeitung über den Fall liest und die Kleidung des Opfers beschrieben wird, geht sie mit ihrem Sohn zur Polizei, da M. die Jacke seines Opfers mit nach Hause gebracht hatte. M. gibt zunächst an, sie auf dem Spielplatz gefunden zu haben. Nach der Vernehmung bei der Polizei gesteht er schließlich die Tat und berichtet außerdem, dass er vor einem Jahr einen Sexualmord begangen hat. Auch dieser Junge war zehn Jahre alt. Außerdem gibt er zu, mehrere Jungen im Alter von acht bis elf Jahren missbraucht zu haben. Ein Gefühl von Reue zeigte er nicht. 

Hintergrund: Bereits im Säuglingsalter fällt M. durch besondere Bewegungsunruhe und Pflegeschwierigkeiten auf, schon früh wird bei ihm ADHS und eine Störung des Sozialverhaltens attestiert. Er kommt auf eine Sonderschule, läuft oft von zuhause weg, kommt in verschiedene Heime und wird dort selbst von älteren Jugendlichen sexuell missbraucht. Er gibt an, nach diesem Gefühl der Ohnmacht Macht und Überlegenheit zu empfinden, wenn er selbst Jüngere missbraucht. 

Das Urteil: M. wird zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt, außerdem wird eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

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