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EskapismusVon der Freude des Zuhausebleibens – und den Gefahren

Lesezeit 5 Minuten
Einsamkeit betrifft zunehmend auch jüngere Erwachsene und Menschen, die nicht allein leben, wie eine aktuelle Studie zeigt.

Viele Menschen empfinden ihr Leben als Einöde.

Viele Menschen ziehen sich ins Private zurück. Das ist auch eine Flucht vor Ängsten in einer Welt des Schreckens.

Ich ließ es Sie, geschätzte Leserschaft, an dieser Stelle schon wissen, dass ich, der seit mehr als 30 Jahren im Journalismus sein Geld verdient, noch nie eine Anweisung oder einen Auftrag erhalten habe, dieses oder jenes nicht oder gerade zu schreiben. Auch die Chefredaktion dieser Ihrer Zeitung lässt mir völlig freie Hand. (Das Kanzleramt, das sei hier der Vollständigkeit halber erwähnt, ebenfalls.) Manchmal aber wird die Bitte an mich herangetragen, eine Kolumne zu schreiben, die sich speziell mit einem Thema auseinandersetzt.

In diesem Fall soll es nun um den Rückzug in die eigenen vier Wände, das eigene Refugium gehen, das Besinnen auf sich selbst und die gemeinsame Zeit mit der Familie im eigenen Zuhause. Ich willigte sofort ein, da ich die Thematik spannend finde und mich als Stadteremiten bezeichne, was mit meiner Arbeit zu tun hat, die zu 95 Prozent daheim stattfindet. Mein Heim ist mein Schloss. Ich arbeite in meiner Wohnung, in der ich mich wohlfühle, sie ist gleichermaßen mein Aufenthalts- und Zufluchtsort.

Viele suchen einen Ort, an dem sie sich sicher fühlen

Mir macht es nichts, stundenlang allein vor mich hin zu werkeln, während Kollegen immer wieder betonen, sie könnten das nicht, weil sie den Austausch bräuchten. So geht es mir ganz und gar nicht. Einsam fühle ich mich nie – im Gegensatz zu einer großen Zahl an Mitbürgern, die ihr Leben als Einöde empfinden, entweder gefühlt oder weil sie wirklich allein sind. Es wundert nicht, dass Depressionen zur neuen Volkskrankheit werden, Menschen sich in ihrer Bude verkriechen und nicht mehr oder unter inneren Schmerzen am öffentlichen Leben teilnehmen.

Doch darum soll es hier nicht gehen. Sondern um das (hoffentlich) gesunde Einigeln, den Rückzug ins Private, das Gemütlich-machen in der eigenen kleinen Welt, die Konzentration auf die Familie. Der Hang zum möglichst ausgiebigen Aufenthalt in der eigenen Bleibe kann auch Flucht sein vor der Welt da draußen, vor Ängsten und Gefahren wie Kriminalität, Komplexität, dem technologischen Fortschritt.

Auch das Gefühl, nicht mithalten zu können, ist latent. Man kann diejenigen verstehen, die den Blick auf oder das Anhören von Nachrichten auf ein Minimum reduzieren – es ist kaum auszuhalten, man hat das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen gerät. Viele suchen sich einen echten oder erdachten Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlen – oft finden sie ihn daheim, zum Beispiel in der Küche. Dass Kochen seit Jahren boomt, hat damit zu tun. Baumärkte können sich schon länger über Käufermassen freuen, der Online-Handel mit Möbeln hat während der Corona-Pandemie enorme Umsatzzuwächse erlebt.

Die Konzentration auf das Privatleben ohne großes Verlassen der eigenen Wohnung ist kein neues Phänomen, es wird seit Anfang der Achtzigerjahre erforscht. Manchen ist das Leben „da draußen“ zu öde, nicht spannend oder inspirierend genug. Mitunter steckt auch Egoismus dahinter oder der – meist zum Scheitern verurteilte – Versuch, ein besonderer Mensch zu sein. Die Wissenschaft spricht von „Cocooning“, was aus dem englischen Wort für „verpuppen“ kommt. Jeder kennt es von dem Naturereignis, wenn sich Raupen in Kokons zu Schmetterlingen entwickeln. Cocooning bedeutet nicht immer Weiterentwicklung zu etwas Schönerem, es bringt nicht immer den erhofften Schutz.

Schwedin wundert sich: Ihr singt hier nie

Cocooning kann auch negative Seiten mit sich bringen. Die Freude am Entdecken neuen Terrains, Verantwortungs- und Gemeinschaftsgefühl können schwinden. Das Internet macht es allen recht einfach. Man findet dort Bestätigung durch Likes und trifft (angebliche) Freunde und Gleichgesinnte. Streit kann gemieden werden. Wenn einem was nicht passt, klickt man einen „Freund“ weg oder verlässt eine Gruppe. Mit der Realität hat das nichts zu tun. Eine Bekannte in Schweden, die lange in Berlin wohnte, kehrte wieder in ihre Heimat zurück, weil sie das Miteinander der Familie vermisste. Sie schwärmte immer von den Treffen mit ihrer Verwandtschaft, besonders vom gemeinsamen Singen, und wunderte sich, dass in Deutschland noch nicht mal Weihnachten gemeinsam Lieder geträllert würden. „Singen macht glücklich“, sagt sie.

Es wundert mich nicht, dass neuerdings sehr viele Leute wieder raus aufs Land ziehen, natürlich auch um an Miete und bei anderen Ausgaben zu sparen, aber auch um der Hektik der Stadt zu entkommen. Die Welt ist turbulent genug. Berlin, wo ich seit 1989 wohne, ist manchmal schwer auszuhalten. Einer meiner besten Freunde pendelt jeden Tag ungefähr 65 Kilometer aus einem Städtchen in Brandenburg nach Berlin. Er wollte unbedingt wieder in seine Heimatstadt zurück, zu seinen Eltern, seinen Wurzeln. Auch das kann ich nachempfinden. Je älter ich werde, desto mehr wächst meine Verbundenheit mit Leipzig, der Stadt, in der ich zur Welt kam und ich Kindheit und Jugend verbrachte. Dort fühle ich mich heimisch. Daheim ist daheim – nicht nur in Bayern.

Es gibt ungefährliche Methoden der Realitätsverdrängung. Ältere Mädchen und junge Frauen lesen serienweise Bücher, die in fantastischen Reichen mit Drachen und Zauberern spielen. Die Flucht ins Fiktive kann allerdings zum – auch gefährlichen – Eskapismus werden, wenn Drogen im Spiel sind oder alles andere im Leben unter dem Konsum zum Beispiel von Computerspielen leidet: Schule, Beruf, Beziehungen, soziales Umfeld, Empathie. Eskapismus spielte in den 1920er Jahren, also der Weimarer Republik, eine bedeutende Rolle, als Deutschland eine schwere Wirtschaftskrise samt gigantischer Inflation durchlitt.

Menschen traten in Scharen die Flucht aus der Realität in eine „bessere“ Scheinwelt an. In den „Wilden Zwanzigern“ waren Partys inklusive Drogenkonsum, Fresssucht und anderen Ausschweifungen angesagt. Vor allem der Tanz und neue Moden brachten ein Gefühl von Freiheit, das die Menschen von den Alltagssorgen befreite. Aber eben leider nur vorübergehend, wie sich bald zeigte. Das böse Erwachsen folgte auf dem Fuße. Die Welt, die schon am Abgrund stand, wurde von Hitler bald in diesen hineingestoßen.