Alarmierende StudieWelche Fähigkeiten Kindern der „Generation Alpha“ fehlen

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Grundschulkinder stehen mit Handys an einem Zaun.

Der digitale Konsum fängt immer früher an – gleichzeitig fällt es Kindern immer schwerer, echte Kontakte zu knüpfen.

Köln – Wie geht es unseren Kindern? Diese Frage steht seit Corona noch lauter und drängender im Raum denn je. Die Ergebnisse einer neuen Studie zeigen nun, dass die Antworten darauf durchaus Grund zur Sorge sind. Denn es geht um die Jüngsten, die so genannte „Generation Alpha“ der Jahrgänge zwischen 2010 und 2025. Also um jene Generation, die auf ihre kurze Lebenszeit gemessen am längsten von der Pandemie beeinflusst worden ist. „Wir konnten feststellen, dass Angststörungen, Depressionen und Unsicherheiten bei den Kindern zunehmen und gleichzeitig die Frustrationstoleranz und Aufmerksamkeitsspanne immer geringer wird“, sagt Studienleiter Rüdiger Maas vom Institut für Generationenforschung. „Viele Auffälligkeiten haben sich zwar zuvor schon gezeigt, aber sind durch Corona noch einmal verstärkt worden.“

Für die Studie wurden zwei Jahre lang 1231 Pädagogen und 652 Eltern befragt, wie sie das Verhalten und die Situation der Kinder wahrnehmen und einschätzen – insgesamt wurden so 22.511 Kinder beurteilt. 

Wir stellen die wichtigsten Ergebnisse der Studie vor:

Kinder können sich häufig nicht ausdrücken

Laut Studie zeigen 40 Prozent der Kinder eine Häufung an Auffälligkeiten im sprachlichen Bereich. Kategorien der Untersuchung waren unter anderem Aussprache, Wortfindungsfähigkeiten, Grammatik und Sprachverständigung. „Demnach spricht zum Beispiel ein Sechsjähriger nach Einschätzung der Pädagogen nicht, wie Kinder dieses Alters sprechen sollten“, erklärt Rüdiger Maas. Gründe für die Defizite könne es viele geben, doch einer sei entscheidend: „Dass viele Kinder etwa keine ganzen Sätze mehr bilden können oder möchten, liegt oft an der Geduld der Eltern. Sie nehmen sich keine Zeit mehr, das zu üben.“

Und fehlendes Sprachvermögen werde vor allem deutlich im Kontakt mit anderen. Das bestätigt auch Daniela Baumgarten, Schulleiterin der Peter-Lustig-Schule in Köln-Ossendorf: „Sprache und das emotional-soziale Verhalten hängen wirklich eng zusammen“, sagt sie, „unsere Sonderpädagogen haben beobachtet, dass manchen Kindern die Sprache fehlt, um Gefühle richtig auszudrücken und dadurch auch sozial zu agieren.“ Und wo Worte fehlten, würden auch Konflikte eher mal mit einem direkten Schlag geregelt.

Manche Kinder finden nicht mehr so leicht Freunde

Auch die Ergebnisse der Studie demonstrieren, dass 30 Prozent der Kinder eine Häufung an Auffälligkeiten im sozialen Bereich zeigen. Sie haben zum Beispiel Schwierigkeiten, Kontakte zu knüpfen, Konflikte zu lösen und eigene Bedürfnisse zu äußern. „Den Pädagogen ist aufgefallen, dass Kinder nicht mehr so leicht Freundschaften schließen können“, erläutert Studienleiter Maas. „Einige Kinder sind es schlichtweg nicht mehr gewöhnt, regelmäßig mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten oder Konflikte selbst zu lösen, immer mehr Kinder verbringen ihre Zeit am Smartphone – erst recht seit Corona.“

Weniger Fähigkeiten, Konflikte zu lösen

Kindern fehlt laut Studie auch immer mehr die Fähigkeit, mit Konflikten insgesamt umzugehen. „Es fällt ihnen schwer, Auseinandersetzungen selbst zu lösen, vieles muss von außen durch Betreuer und Lehrer geregelt werden“, berichtet Daniela Baumgarten. Gleichzeitig hätten Kinder in ihrer heutigen Lebenssituation aber auch immer weniger Raum, um eigene Lösungen zu entwickeln. „Früher war man als Kind häufiger alleine unterwegs und Streits musste man irgendwie selbst regeln“, sagt Baumgarten. „Heute sind Kinder viel in Betreuung und werden sehr überbehütet.“ Eltern von heute würden bei Streits frühzeitig intervenieren, sagt auch Generationenforscher Rüdiger Maas. „Dabei ist es enorm wichtig, dass Kinder lernen, Konflikte zu lösen und einander zu verzeihen.“

Fehlende Empathie bei Auseinandersetzungen

Gestiegen ist, so die Studie, auch die Gewaltbereitschaft und Empathielosigkeit der Kinder. Das kann Daniela Baumgarten aber nur teilweise bestätigen. „Ich mache nicht die Erfahrung, dass die Gewaltbereitschaft größer geworden ist. Verändert aber hat sich, dass es Kinder gibt, die nicht aufhören, wenn jemand weint oder am Boden liegt. Sie haben kein Gespür mehr dafür – das schockt uns teilweise sehr.“

Manche Kinder haben verlernt, richtig zu spielen

Den Umgang mit Streit üben Kinder normalerweise spielerisch. Aber auch beim Spielverhalten gibt es laut Studie Defizite. So können 56 Prozent der 4-5-jährigen Kinder nicht mehr vertiefend spielen, wie es ihrem Alter entspricht. Bei den 6-7-jährigen sind es immer hin noch 37 Prozent. „Das liegt auch oft an den Eltern, die ihr Kind permanent mit Aktionen und Aktionswechseln befeuern“, sagt Rüdiger Maas. Dabei sollten Kinder ruhig auch mal Langeweile haben und sich selbst ein Spiel überlegen. Das veränderte Spielverhalten kann Baumgarten von ihrer Schule allerdings nicht bestätigen. „Eigentlich können unsere Kinder hier noch sehr schön spielen und sich richtig hinein versenken ins Spiel. Sie brauchen nur die Gelegenheit.“

Motorische Defizite in der Grundschule

Bestätigen könne sie dagegen, dass Kinder heute Defizite im motorischen Bereich haben. Laut Studie zeigen 19 Prozent der Kinder Auffälligkeiten in der Grob- und Feinmotorik. „Kinder können den Stift nicht richtig halten oder nicht mit Schere oder Kleber umgehen“, erzählt Baumgarten. Über Dreiviertel der Drittklässler könnten außerdem noch nicht schwimmen. Das sei allerdings eine direkte Corona-Folge, weil so lange kaum Schwimmkurse möglich waren.

Hoher digitaler Konsum in jungen Jahren

Nicht überraschend ist der hohe Einfluss der Digitalisierung auf die Generation Alpha. Laut Studie besitzen 75 Prozent der 10-Jährigen bereits ein Smartphone. „Wir haben einen immer höheren Konsum digitaler Geräte in immer jüngerem Alter“, sagt Rüdiger Maas. „Kinder sind daran gewöhnt, jederzeit alles abrufen zu können und haben keine Geduld mehr, um auf irgendetwas zu warten.“ Gleichzeitig wollten sie aus der Zeit, in der sie konsumieren, immer das Beste herausholen. „Sie sind aber nie zufrieden, weil es ja immer noch etwas Cooleres geben könnte. Das nennen wir Übersättigungsphänomen.“

Natürlich spiele es eine Rolle, wie viel Kinder sich in der digitalen Welt bewegten. „Es geht hier nicht darum, Smartphones zu verbieten“, sagt Maas. „Problematisch wird es, wenn Kinder zum Beispiel mit dem Smartphone ruhig gestellt werden. In der Corona-Zeit haben das viele Eltern getan, um in Ruhe arbeiten zu können.“

Manche Kinder bekommen aber auch deswegen früh ein Smartphone, damit sie besser in Kontakt bleiben können mit den Eltern. „Es gibt auch schon Erstklässler mit Smartphones“, sagt Schulleiterin Baumgarten, „sie rufen dann schon morgens direkt vom Schultor ihre Eltern an, um zu sagen, dass sie gut angekommen sind. Ein gutes Beispiel dafür, wie Eltern heute ihre Kinder überbehüten.“

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Überbehütung durch Eltern hat Folgen

Den Anstieg der Überbehütung durch die Eltern melden auch die Pädagogen in der Studie. So werden 13 Prozent der 2-3-jährigen Kinder von den Eltern überbehütet, bei den 8-9-Jährigen sind es sogar 27 Prozent – und hier vor allem Jungen. „Die Hälfte der Kinder wird von ihren Eltern in die Schule gebracht, 20 Prozent werden sogar in die Schule gefahren“, sagt Maas. „Es gibt bereits Verbotsschilder, die sagen: ‚Eltern, hier nicht weiter!‘“

Durch diese Dauerbegleitung würden den Kindern wichtige Erfahrungen genommen. „Sie haben nicht die Möglichkeit, Freundschaften auf dem Schulweg schließen oder den sicheren Umgang im Straßenverkehr zu üben“, sagt Maas. Und ein weiterer Punkt mache ihm Sorgen. „Durch die Überbehütung schirmen Eltern ihre Kinder von allem Negativen ab. Passiert dann doch etwas Unangenehmes, können sie gar nicht damit umgehen.“ Schon jetzt würden viele Jugendlichen Dinge leichter abbrechen und schneller aufgeben. „Sie haben auch gar kein Verständnis mehr dafür, dass sie irgendetwas machen sollen, das unangenehm ist.“

Kinder sind nicht mehr so selbständig

Schon jetzt zeige sich das auch an der Selbständigkeit der Kinder, sagt Daniela Baumgarten. „Kinder sind zum Beispiel immer weniger in der Lage, ihren Ranzen selbst zu packen, ihre Sachen in Ordnung zu halten oder sich Dinge zu merken“, erzählt sie. „Heute müssen die Informationen alle noch einmal an die Eltern geschickt werden, sonst funktioniert es nicht.“

Eltern lassen ihr Kind vieles mit entscheiden

Auf der anderen Seite fordern Kinder heute durchaus ein, mitzuentscheiden. So beobachteten Pädagogen, dass 17 Prozent der 8-9-jährigen Kinder nicht wetterentsprechend gekleidet sind. Was zunächst nach Vernachlässigung klingt, hat aber ganz andere Ursachen. „Es bedeutet, dass Kinder selbst entscheiden, was sie anziehen und Eltern nicht die Geduld aufbringen, Nein zu sagen – selbst wenn es im Winter mit dem Lieblings-T-Shirt raus will“, erklärt Rüdiger Maas. Damit werde im Prinzip das Mitspracherecht des Kindes über das Kindeswohl gestellt. „Die Einstellung zum Kind hat sich schon geändert“, sagt auch Baumgarten, „Eltern heute begegnen ihrem Kind eher auf Augenhöhe. Manchmal müssen wir als Pädagogen aber auch sagen: ‚Das entscheidet nicht ihr Kind, das entscheiden Sie!‘“ Viele Eltern hinterfragten auch das Verhalten ihrer Kinder nicht mehr. „Ist etwas in der Schule vorgefallen, stellen sie sich sofort auf die Seite ihres Kindes.“

Unsicherheiten bei der Erziehung

Gleichzeitig sind viele Eltern bei der Erziehung unsicher, wie die Studie belegt. Laut Grundschullehrern können 24 Prozent der Eltern das Verhalten ihres 8-9-jährigen Kindes nicht richtig einschätzen. 16 Prozent der Eltern wünschen sich demnach Unterstützung von Erzieherinnen beim Lösen der Konflikte mit ihren Kindern. Und 90 Prozent der Eltern holen sich Erziehungstipps aus dem Internet. „Gerade weil sie als Eltern so perfekt sein wollen, lassen sie sich dann von den Informationen erst recht verunsichern“, sagt Maas.

Soziale Kluft zwischen den Elternhäusern

Die Unsicherheit werde nicht zuletzt gesteigert durch die großen Unterschiede der Eltern. „Manche Eltern wollen immer weiter optimieren, sie machen am Wochenende maximal viele Ausflüge mit ihren Kindern und posten das dann auch gerne“, sagt Rüdiger Maas. Andere Eltern fühlten sich dadurch unter Druck gesetzt, könnten sich aber gar keine Unternehmungen leisten. „Die soziale Schere zwischen den Elternhäusern wird immer größer.“

Das beobachtet auch Schulleiterin Baumgarten. „In manchen Familien arbeiten beide und müssen trotzdem noch Wohngeld beziehen“, berichtet sie. „Stark gemerkt haben wir die Unterschiede auch in Corona-Zeiten, manche Kinder hatten ein Tablet zuhause und andere Kinder haben wir gar nicht erst erreicht, weil es nicht einmal eine E-Mail-Adresse gibt.“ Hier könne es helfen, mehr Sozialarbeiter an den Schulen zu haben, um die Kinder wenigstens vor Ort unterstützen zu können. „Wir sind es den Kindern schuldig, zeitnah zu agieren und auch die sozial Schwächeren aufzufangen“, sagt Generationenforscher Rüdiger Maas. „Die Politik sollte die Lage der Kinder ernster nehmen und mit konkreten Lösungen angehen.“

Gibt es auch Positives über die „Generation Alpha“ zu sagen?

Die Ergebnisse der Studie zeichnen auf den ersten Blick ein recht düsteres Bild der „Generation Alpha“. Steht es wirklich so schlimm um Kinder dieser Jahrgänge? „Die Studie zeigt Tendenzen und Entwicklungen, die wir durch die Befragung des pädagogischen Fachpersonals und der Eltern ermittelt haben", sagt Rüdiger Maas. Es werde deutlich, dass vor allem an den Rändern – also bei den überbehüteten Kindern auf der einen und bei den vernachlässigten Kindern auf der anderen Seite – die Auffälligkeiten zunähmen. „In der Mitte gibt es aber natürlich auch viele Kinder, die gesund und resilient sind und viele Eltern, die sehr viel richtig machen.“

Insgesamt wüchsen viele Kinder heute in Wohlstand auf, sie würden ernst genommen und bedarfsorientiert erzogen. Auch die digitalen Fähigkeiten der Kinder seien ein Kapital, das ihnen später etwas bringen könne. „Zu erwarten ist außerdem jetzt schon, dass die Generation Alpha später eine hohe Liberalität, also weniger Sexismus, Rassismus und Homophobie zeigen wird – das lässt sich bereits an der vorangehenden 'Generation Z' erkennen.“

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