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Kind am anderen Ende der WeltSo hart kann das Austauschjahr für Eltern sein

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Wenn plötzlich das Heimweh überhand nimmt, kann das für Eltern sehr schwer sein. 

Köln – Strahlende Gesichter und glanzvolle Outfits beim Highschool-Abschlussball, Trophäen mit der Sportmannschaft, Abenteuer in wilder Natur, lebenslange Freundschaften in aller Welt und natürlich perfekte Sprachkenntnisse – die Vorstellungen von einem Auslandsaufenthalt sind bei vielen Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern vermutlich ähnlich. Die Frage nach einem halben oder ganzen Jahr in den USA, Kanada, England oder einem anderen Land der Welt stellt sich in vielen Familien mit Kindern im Alter zwischen 14 und 16 Jahren.

Dass Bilder und Realität aber nicht immer übereinstimmen, damit haben auch wir uns in den vergangenen Monaten auseinandersetzen müssen. Ein Auslandsaufenthalt des Kindes bringt auch für Eltern besondere Herausforderungen mit sich – und damit ist nicht (allein) der finanzielle Teil gemeint.

Unsere Tochter, gerade 15 geworden, ist seit Ende August im Westen Kanadas. Die Vorbereitung durch die Organisation war gut, mit den jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurden alle erdenklichen praktischen und emotionalen Schwierigkeiten im Vorfeld durchgespielt. Den Abschied am Flughafen haben wir in Würde vollzogen. Ein seltsames Gefühl ist es allerdings schon, wenn man bei Flightradar24 verfolgt, wie das Kind sich gerade über Grönland befindet. Nächtliche Nervosität stellt sich dann ein, als die Eltern beim Checken der Zeiten sehen, dass der Anschlussflug in Vancouver wohl verpasst wird. Diese Hürde meistert die Tochter aber – verbunden mit leichten Panikattacken – vorbildlich und kommt wohlbehalten bei der Gastfamilie an. Aufatmen und endlich Schlaf in Deutschland.

Kinder wachsen an ihren Herausforderungen

In den ersten zwei Wochen ist noch Sightseeing mit den anderen „Internationals“ angesagt, wir bekommen tolle Bilder von Whale Watching und Wandertouren. Bereits nach wenigen Tagen bemerken die erstaunten Eltern, dass das Kind auf einmal praktische Aufgaben bewältigt, die zuhause noch zu groß erschienen wären: Es kümmert sich selbstständig um eine SIM-Karte fürs Smartphone, kauft allein ein gebrauchtes Rad und durchdringt komplizierte Busfahrpläne. Die sonst eher zurückhaltende Tochter fragt sich durch die fremde Umgebung und macht laufend Small Talk mit Fremden. „Ich liebe Kanadier“, heißt es, die Menschen seien unfassbar freundlich.

Dann jedoch fängt die Schule an, der Alltag beginnt, Heimweh nimmt überhand. Die Versprechen wie „Das wird das halbe Jahr deines Lebens“, „Schule in Kanada ist sooooo cool“ oder „Du wirst von der Natur überwältigt sein“ sind so nicht immer einlösbar, Routine und Langeweile überlagern die hohen Erwartungen. Die Gastfamilie ist nicht besonders herzlich und scheint wenig Kapazitäten für Gastschülerinnen zu haben, statt Abende am Lagerfeuer gibt es strenge Ruhe ab 20 Uhr, gemeinsame Aktivitäten sind rar. Wir hören tagelang kaum etwas vom Kind und werten das zunächst als gutes Zeichen. Dann aber finden Videocalls mit Tränen und konkreten Abbruchplänen statt. „Ihr glaubt nicht, wie ich Zuhause gerade vermisse“, heißt es öfter.

Wechsel der Gastfamilie in Kanada

Man wird sein Kind sehr vermissen, daran gab es schon im Vorfeld keinen Zweifel. Dass der Grad des Vermissens aber auch immer direkt mit dem Grad des emotionalen Zustands in 8000 Kilometern Entfernung zusammenhängt, mussten wir erst praktisch erfahren. Die Zeitverschiebung macht es anstrengend, weil man nachts auf Nachrichten zu wichtigen neuen Entwicklungen wartet und sein Handy nicht mehr ausschalten mag.

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Nach mehreren emotional anstrengenden Wochen ist klar: Die Gastfamilie muss gewechselt werden. Die Entscheidung muss das Kind treffen und mit der Betreuerin vor Ort sprechen. Und dann die bislang größte Aufgabe schaffen, die auch Erwachsenen schwer fallen würde: Den bisherigen Gasteltern sagen, dass man ausziehen wird. Als das vollzogen ist, fällt uns ein Stein vom Herzen. Es kann alles nur besser werden! Und so ist es auch: Die neuen Gasteltern sind „nahbar“, wie das Kind es nennt, sie strahlen Wärme aus und integrieren ihre Gasttochter in die Großfamilie. Auf einmal ist Übernachtungsbesuch von Freundinnen möglich, Hunde und Katzen sorgen für Flausch-Faktoren.

Es kann nicht alles Abenteuer sein

Wir Eltern haben gelernt: Etwas Heimweh ist normal, und man muss durchaus schlechte Stimmungen am anderen Ende der Welt aushalten können. Nicht alles ist Abenteuer, und Alltagsverwerfungen gibt es hier wie dort. In früheren Zeiten ohne Messenger und Videocalls hätte man das auch gar nicht immer so direkt mitbekommen. Wenn die Tiefs aber überhand nehmen, sollte man die Ursachen suchen und sein Kind ermutigen, Konsequenzen zu ziehen. Auch können sich die Vorstellungen vom Gasteltern-Dasein offenbar sehr von den eigenen Erwartungen unterscheiden. Außerdem sind Dinge, gegenüber denen sich ein Jugendlicher möglicherweise resilient zeigt, für ein anderes Kind nur schwer zu ertragen.

Inzwischen meldet sich die Tochter übrigens wieder seltener. In 50 Prozent der Fälle geht es dann um praktische Fragen wie Smartphone-Reparaturen oder Überweisungen für Extra-Ausgaben. Wir sind froh und dankbar. Und das Vermissen hat jetzt einen „wohligen“ Beiklang, wie mein Mann sagt, die Sorgen gehören der Vergangenheit an. (cme)