Abo

Suizidgefahr bei Jugendlichen„Das Schlimmste ist, den Verdacht nicht anzusprechen“

Lesezeit 7 Minuten
Neuer Inhalt

Viele Jugendliche, denen es nicht gut geht, schotten sich von der Außenwelt ab. 

Es gehört zu den schlimmsten Vorstellungen von Eltern, dass sich das eigene Kind das Leben nehmen könnte. Auch für Freunde und Klassenkameraden ist es schockierend, wenn ein junger Mensch nicht mehr leben will. Was können Eltern tun, wenn sie das Gefühl haben, dass es ihrem Kind nicht gut geht? Wie soll man als Freund reagieren, wenn jemand ankündigt, sterben zu wollen? Und gibt es Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sofort Hilfe nötig ist? Prof. Christoph Wewetzer, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Holweide, gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Generell lässt sich sagen: Wenn ein Jugendlicher vermehrt davon spricht, sich das Leben nehmen zu wollen, sollte so bald wie möglich ein Psychotherapeut oder Psychiater kontaktiert werden. Wenn der Jugendliche sich nicht von seinen suizidalen Absichten distanziert oder es sogar schon zu einem Selbstmordversuch gekommen ist, muss sofort der Notarzt gerufen werden. Er entscheidet dann, welche weiteren Maßnahmen notwendig sind und ob der Jugendliche in eine Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik gebracht wird.

Globaler Rückzug in vielen Bereichen ist ein Warnsignal

Für einen sich anbahnenden Selbstmordversuch gibt es einige Anzeichen wie Rückzug, Isolation und Kontaktabbruch. Die Jugendlichen bleiben mehr als gewöhnlich allein in ihrem Zimmer, kommen nicht mehr zu den Mahlzeiten und reden nicht mehr mit Eltern oder Geschwistern. Sie gehen auch nicht mehr regelmäßig in die Schule, brechen den Kontakt zu ihren Freunden ab und vernachlässigen ihre Hobbys. Oft können sie auch nicht mehr richtig schlafen.

Mögliche Gründe für suizidale Absichten

Warum es zu suizidalen Absichten kommt, kann viele verschiedene Gründe haben. Meist steht am Anfang ein Konflikt aus dem privaten Bereich (z. B. Streit, Trennung, Missbrauch) oder aus der Schule (z. B. Überforderung, Mobbing). Auch familiäre Probleme wie Streit, Stress oder Trennung der Eltern können Auslöser sein. Aus dem akuten Konflikt wird ein dauerhaftes Problem, der Jugendliche zieht sich zurück und entwickelt Selbstmordgedanken.

Zum Weiterlesen

Christoph Wewetzer/Kurt Quaschner: Ratgeber Suizidalität. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher, Hogrefe Verlag, 8,90 Euro

Manchmal sind Suizidversuche aber auch spontan und gehen auf aktuelle Vorfälle wie Trennung oder Freundschaftsabbruch zurück. Ebenso können psychische Erkrankungen wie etwa Depressionen oder psychische Erkrankungen bei den Eltern Suizidgedanken begünstigen. Hat es bereits Suizidversuche in der Familie oder bei engen Freunden gegeben, ist die Gefahr ebenfalls höher.

Gefahr der Nachahmung: Der Werther-Effekt

Auch gesellschaftliche-soziale Aspekte wie die Nachahmungstat spielen eine Rolle. Dieses Phänomen wird Werther-Effekt genannt und geht auf das Buch „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe zurück, in dem sich die Hauptfigur das Leben nimmt. Nach Erscheinen im Jahre 1774 hatte es viele Nachahmungsversuche gegeben. Ähnliches passierte nach dem Suizid des Fußball-Torhüters Robert Enke im Jahr 2009. „Es war ein absoluter Tabubruch, dass damals so groß darüber berichtet wurde“, erinnert sich Wewetzer. Auch einige Serien oder Filme, die Selbstmord thematisieren, können Nachahmungstaten auslösen.

Nicht schweigen! Einen Verdacht unbedingt ansprechen

„Suizidgedanken an sich sind für Jugendliche nicht so ungewöhnlich. 15 bis 30 Prozent aller Jugendlichen denken irgendwann einmal an Selbstmord. Das typische Alter für die Androhung von Suizid ist 14 oder 15. Viele machen Andeutungen, sind aber nicht eindeutig davon überzeugt, sterben zu wollen“, sagt Wewetzer. Werden diese Andeutungen gemacht, darf man auf keinen Fall schweigen. „Der größte Fehler, den man machen kann, ist, einen Verdacht nicht anzusprechen. Viele Menschen haben große Sorge, dass sie mit dem Reden darüber den Suizid erst auslösen. Das ist nicht der Fall“, sagt Wewetzer. Auch Lehrkräfte sollten den Jugendlichen ansprechen und nachfragen: „Ich habe gehört, dass du nicht mehr leben willst. Stimmt das? Kann ich dir irgendwie helfen?“

Warnhinweise für suizidales Verhalten

- Gefühle von Verzweiflung, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit - geringes Selbstbewusstsein und geringes Selbstwertgefühl - Gefühl des Unverstandenseins mit ausgeprägtem Grübeln - sozialer Rückzug bis hin zur Isolierung, Initiativ- und Interessenlosigkeit - traurige und niedergeschlagene Stimmung und Beschwerden wie Schlaflosigkeit, Müdigkeit und Appetitlosigkeit - Äußerungen über die Sinnlosigkeit des Lebens - Wunsch zu sterben wird immer wieder geäußert, es gibt auch konkrete Pläne zur Umsetzung

Sachlich in Kontakt treten und das Gespräch suchen

Nach dem Ansprechen des Verdachts sollte man Gesprächsbereitschaft signalisieren und möglichst allein mit dem Jugendlichen reden, und zwar ganz sachlich, ruhig und ohne Zeitdruck. Erkundigen Sie sich nach Gründen und möglichen Auslösern. Sprechen Sie die fast immer vorhandene Ambivalenz an: Jugendlichen schwanken häufig zwischen der Suche nach Hilfe und der Abwehr von Hilfe. Gehen Sie auch auf die Beziehungsverantwortung des Jugendlichen ein und verdeutlichen Sie, dass er eine wichtige Bedeutung für seine Angehörigen und Freunde hat.

Fragen Sie, ob es im Vorfeld Lösungsversuche für das bestehende Problem gegeben hat und würdigen Sie diese. Halten Sie sich mit übereilten neuen Lösungsvorschlägen und Deutungen unbedingt zurück. Für den Betroffenen ist es wichtig, dass der Erwachsene Verständnis zeigt für den Gedanken, als unerträglich Empfundenes durch Suizid zu beenden, ohne den Suizid als solchen gutzuheißen. Motivieren Sie den Jugendlichen dazu, sich gemeinsam fachkundige Hilfe zu holen. Halten Sie außerdem zuhause alle Medikamente verschlossen, so dass es nicht zu spontanen Versuchen kommen kann.

Das könnte Sie auch interessieren:

Fragen Sie nach dem Suizidplan

Was zunächst verstörend klingt, hilft Ihnen dabei, zu erkennen, wie akut der Handlungsbedarf ist. Nach den ersten Suizidgedanken machen die Betroffenen meist einen Plan, wie genau sie sich töten wollen. „Je ausgefeilter dieser Plan ist, desto gefährdeter ist die Person. Fragen Sie den Jugendlichen also genau danach, wie er sich umbringen will. Wenn es bereits konkrete Pläne gibt, sollten Sie einen Notarzt anrufen“, sagt Wewetzer. Hat es bereits einen Versuch gegeben, fragen Sie auch hier nach dem Ablauf. Kann der Betroffene sich im Gespräch nicht vom Wunsch zu sterben distanzieren und hat auch einen konkreten Suizidplan, sollten Sie einen Notarzt rufen, der entscheidet, wie es weitergeht.

Hier finden Sie Hilfe und Unterstützung

Telefonseelsorge, Beratung per Mail, Telefon, Chat oder vor Ort: 0800-1110111 oder 0800-1110222 (kostenlose Nummern) - Nationales Suizid-Präventionsprogramm für Deutschland mit vielen Informationen und Materialien  - Deutsche Gesellschaft für SuizidpräventionAngebote für „Angehörige um Suizid“ - Onlineberatung für suizidgefährdete Jugendliche bieten zum Beispiel die Jugendnotmail oder die Caritas - Information über Suizid und Suizidprävention finden Sie auch bei „Freunde fürs Leben“  - Nummer gegen Kummer (anonym und kostenlos), Informationen für Kinder, Jugendliche (unter 116111) und Eltern (0800/1110550) Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Köln - Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Holweide - Bundesverband der niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater mit Kontaktadressen Informationszentrale gegen Vergiftungen, Zentrum für Kinderheilkunde am Universitätsklinikum Bonn, 0228 /19 240

Wie Freunde und Klassenkameraden unterstützen können

Auch unter Freunden sollte auf jeden Fall mit der betreffenden Person allein und in Ruhe darüber gesprochen werden, wenn suizidale Absichten geäußert wurden. „Keine Sorge: Durch die Ansprache wird man den Suizidversuch nicht auslösen. Das Gegenteil ist der Fall. Erst durch Ansprechen wird Hilfe möglich“, sagt Wewetzer eindeutig. Nicht angebracht ist es, in der Klasse mit anderen darüber zu reden oder sich an Gerüchten zu beteiligen. Im Gespräch ist es nicht nötig, sofort Lösungen aufzuzeigen. Es geht darum, Hilfe zu suchen. Außerdem sollte der Freund dazu motiviert werden, sich an seine Eltern, Lehrer oder – falls er in therapeutischer Behandlung ist – seinen Therapeuten zu wenden.

Es ist ok, sich als Freund an andere zu wenden und um Hilfe zu bitten

Problematisch kann es werden, wenn man dem Freund versprechen musste, niemandem etwas zu sagen. „Wenn die Gespräche mit dem Freund nicht geholfen haben und er sich auch nicht seinen Eltern offenbart hat, ist es ok, wenn man sich als Freund selbst Hilfe sucht und einen Vertrauten mit einweiht – auch dann, wenn man versprochen hat, keinem etwas zu sagen“, macht Wewetzer klar. Denn nur so besteht weiter die Hoffnung auf Hilfe. Sobald der Suizidversuch konkret wird, muss auf jeden Fall der Notarzt gerufen werden.

Und nach dem Versuch?

Wenn es einen Suizidversuch gegeben hat, führt das im Freundeskreis oft zu Gerüchten und Spekulationen. An diesen Gesprächen sollte man sich als Freund auf keinen Fall beteiligen. Kommt der Betroffene aus einer Klinik zurück in die Schule, sollte man sich anfangs mit Fragen zurückhalten und vor allem zeigen, dass man sich über die Rückkehr sehr freut.

Das sollten Sie auf keinen Fall tun

- Den Jugendlichen und seine Probleme nicht ernst nehmen und einen Suizidversuch in seiner Gefährlichkeit herunterspielen. - Eine belehrende, kritisierende und ermahnende Haltung einnehmen. - Schnelle allgemeingehaltene Lösungsvorschläge und Ratschläge anbringen. - Das Verhalten vorschnell bewerten und Erklärungen oder Deutungen abgeben. - Eigene Ängste und Kränkungen in den Vordergrund stellen.

Innerhalb der Klasse sollte der Vorfall professionell und mit Hilfe von Schulpsychologen konkret und sachlich aufgearbeitet werden. Nicht angebracht sind allgemein gehaltene Referate oder Gespräche über Suizid an sich. „Das ist eine unspezifische Erhöhung der Aufmerksamkeit, ohne konkret zu informieren und Hilfe anzubieten und deshalb eher kontraproduktiv“, sagt Wewetzer.

Seit Corona hat es mehr Versuche gegeben

Zwei Jahre Corona-Beschränkungen haben sich auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bemerkbar gemacht. „Die Notfallaufnahmen haben seitdem bei uns um 25 Prozent zugenommen“, bilanziert Wewetzer. Seit der Pandemie gebe es auch mehr Fälle von Magersucht und selbstverletzendem Verhalten. Die meisten Patienten sind weiblich und zwischen zwölf und 16 Jahre alt.

Rundschau abonnieren