Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

1000 falsche SchritteWas man bei der Königsdisziplin „Gehen“ alles falsch machen kann

Lesezeit 7 Minuten
gehen verstehen

 Physiotherapeutin Kirsten Götz-Neumann erklärt die Königsdisziplin „Gehen“ und die Rolle des Gesäßmuskels.

Ein kleiner Test vorab: Sie bitten einen guten Freund, dass er Sie beim Gehen mit dem Handy von der Seite filmt. Dann schauen Sie sich das Filmchen an und  werden staunen. Sie sehen auf Anhieb,  ob Sie leicht nach vorn gebeugt oder nach hinten gelagert gehen.

Was Ihnen das sagt? Ihr Körperschwerpunkt, der am Bauchnabel sitzt, ist falsch ausgerichtet und andere Bereiche müssen infolgedessen Schwerstarbeit leisten, was Sie schnell spüren: Ihre Knie tun weh, die Hüfte verschleißt, der Rücken schmerzt. Sie werden, wenn Sie Ihr Gangmuster beibehalten, Kunde beim Physiotherapeuten, später beim Orthopäden, und wenn nichts mehr geht beim Operateur Ihres Vertrauens. „Ich hatte einen Patienten, der  an der Lendenwirbelsäule operiert und dort danach  versteift wurde. Er war von einem Waldhügel gestürzt. Diese Operation war nötig. Vier Operationen und weitere Versteifungen der Wirbelsäule folgten, weil die Schmerzen anhielten. Diese Schäden hatte er sich in den Folgejahren nach dem Eingriff zugezogen, weil er beim Gehen nicht mehr sanft landen konnte, sondern sich nach hinten lehnte. Und wer sich nach hinten gebeugt bewegt, dem fehlt die Stoßdämpfung“, sagt Kirsten Götz-Neumann.

Tausende falsche Schritte

Bei einem Auto wisse jeder, dass man ohne Stoßdämpfer nicht fahren könne,  „doch beim Menschen ist diese Funktion leider wenig bekannt. Wer täglich einige tausend Schritte macht und diese immer falsch umsetzt, der muss sich nicht wundern, wenn der Körper Schaden nimmt, weil falsche Bewegungsmuster abgespeichert sind. Das Wesentliche beim Gehen ist die richtige Stoßdämpfung. Aber leider laufen viele Menschen so wie ein Auto ohne Stoßdämpfer fährt“, sagt Kirsten Götz-Neumann.

Die Gang-Diagnostikerin und Physiotherapeutin Kirsten Götz-Neumann hat über „Gehen verstehen“  nicht nur ein Buch geschrieben, das mittlerweile Standardwerk ist, sondern hat Antworten gesucht und gefunden, warum Menschen „nicht gut gehen können und unter Schmerzen und Verschleiß leiden“. Bei exzellenten Lehrern wie der Amerikanerin Dr. Jaqueline Perry, eine der Pioniere auf dem Gebiet, lernte sie Therapien und Behandlungsmethoden, um die Ursachen für Schmerz und Verschleiß zu erkennen und zu beseitigen –  bei Kindern und Erwachsenen.

Kirsten Götz-Neumann arbeitet nach wie vor viele Wochen im Jahr am Perry-Institut in Los Angeles. So effektiv, dass Patienten, „die ein Jahr unter Beschwerden leiden,  spätestens nach der dritten Einheit eine deutlich spür- und messbare Besserung erfahren sollten, wenn die Ursache ihren Ursprung im Bewegungsapparat hat und übersehen wurde. Der Körper hat selbstheilende Energien, sobald belastete und strapazierte Stellen entlastet werden. Die Hauptursache im Bewegungsapparat muss gefunden und behandelt werden – nicht das Symptom.“

Gehen verstehen

Wenn die „Königsdisziplin Gehen“ zur Sprache kommt, ist Kirsten Götz-Neumann Feuer und Flamme. Sie arbeitet in ihren Therapien nicht gegen, sondern mit Physiotherapeuten,  Orthopäden und Chirurgen, die weltweit in ihre Seminare kommen. Neu sind ihre qualitätsüberprüften „Gehen-verstehen-Kompetenzhäuser“ und Praxen auch in Deutschland und der Schweiz, in denen Kirsten Götz-Neumann persönlich berät. Doch trotz aller belegbaren Erfolge sind  Gangdiagnosen bisher nicht im Heilmittelkatalog gelistet, was bedeutet, dass Kassen die Kosten nicht übernehmen. In Deutschland liegen je nach Region Gangdiagnosen und -therapien zwischen 80 bis  120 Euro die Stunde.

Wer auf Götz-Neumann zugeht, erfährt umgehend, ob er sich  sanft auf sie zubewegt oder einen harten Gang vorlegt. „Wer bereits Verschleiß an Gelenken und Knorpeln hat, darf nicht durch die Gegend hämmern.“ Den optimalen Stoßdämpfer hat Mutter Natur jedem Menschen mitgegeben: den großen Gesäßmuskel. „Wenn der Muskel aber als Sitzkissen missbraucht wird, kann das mit dem Gehen nicht klappen, denn dieser Muskelprotz muss von der Hüfte runter alles halten – bei jedem Schritt.

gehen verstehen wald

Wenn das Becken nicht gehalten wird, bricht das ganze Haus zusammen.“  Es reicht jedoch nicht, den Gesäßmuskel zu trainieren, indem man regelmäßig die Pobacken zusammen kneift. „Der Muskel allein bringt es nicht, sondern der Muskelbefehl muss vom Gehirn erteilt werden. Dort sind die Bewegungsmuster etabliert.“ Die richtigen und die falschen. Die Schwierigkeit, tradierte Gangmuster zu ändern, besteht darin, das Hirn neu zu programmieren, damit es die richtigen Geh-Befehle an den richtigen Muskel gibt.  „Das ist wie bei einem Orchester, jeder muss zum richtigen Zeitpunkt richtig spielen. Wenn das Gehirn aber über viele Jahre falsch synchronisiert wurde, ist Kakophonie das Resultat“, sagt Götz-Neumann.

Pillen schlucken bringt es nicht

„Wir Gang-Therapeuten müssen sicherstellen, dass im Gehirn die Ansteuerung harmonisiert wird. Das ist ein weit höherer Anspruch als nur ein paar Muskeln zu kräftigen, da die synaptischen Verbindungen im Hirn oft nicht mehr da sind beziehungsweise wieder reaktiviert werden müssen.“  Das ist die eigentliche Arbeit des Patienten und mit ihm. Er muss lernen, wie der neue Befehl zum Muskel kommt. Das heißt: Üben, üben, üben. Täglich drei mal 20 Minuten sollten es schon sein. „Pillen schlucken bringt’s nicht, der Gang zum Masseur oder Physiotherapeuten auch nicht. Wenn der den Hintern des Patienten knetet, werden zwar die Hände des Therapeuten stark, aber das Gesäß des Patienten bleibt schlaff.“

Im „Konzert des guten Gehens“ gibt nicht nur die Po-Muskulatur den Ton an, auch die Wadenmuskeln müssen gezielt arbeiten. „Die hüftumgreifende Muskulatur und die Waden-Muskulatur mit ihrer explosiven Kraft sind die Goldmuskulatur.“ Wer sich mit Blick auf seine Waden attestiert, dass sie stramm sind, hat zwar das Werkzeug parat, muss es aber auch nutzen, was nur übers Gehirn klappt. Selbst wenn nicht oder noch nicht alles rund läuft, plädiert Kirsten Götz-Neumann trotzdem für tägliches Gehen. „Ein gemächlicher fehlerhafter Gang ist mir lieber, als gar nicht zu gehen.

Regelmäßiges Gehen ist weitaus gesünder als sich drei Mal in der Woche bei intensivem Sport kaputt zu machen.“ Dass, dem Trend folgend, möglichst alle joggen sollten, sieht sie kritisch. „Im britischen Journal für Sportmedizin wurde 2002 eine Studie mit 1579 Läufern veröffentlicht mit dem Ergebnis, dass bei den Läufern überall  Verletzungen festzustellen waren, am häufigsten am Kniegelenk.“ Kirsten Götz-Neumann: „Fürs Laufen musst du fit sein.“ Ihr Alternativ-Vorschlag: „Täglich gehen und sein System pflegen. Dauersitzen macht das beste System kaputt. Wer zu viel sitzt und nur hin und wieder Sport treibt, tut sich nichts Gutes.“

Wadentest

Hinstellen, festhalten ist erlaubt, aber nicht abstützen. Mit beiden Füßen gleichzeitig die Fersen heben und so hoch wie möglich auf die Zehenspitzen gehen, einige Sekunden halten. Wieder absenken. Danach auf einem Bein stehen, das andere Bein leicht anwinkeln, locker festhalten, nicht abstützen, die Ferse des Standbeins so hoch wie eben möglich heben, dabei das Standbein gestreckt halten, ohne dass das Knie einknickt oder nach vorne schießt, die Standbein-Ferse kurz hochheben und danach sofort absenken. Pro Bein 20  bis 25 Mal wiederholen ohne Pausen zwischen den Anhebungen. Wer das problemlos schafft, hat gute Wadenmuskeln, die er nur noch richtig einsetzen muss.

Selbstversuch

Ich gehe zu Nicole Hohmann, geprüfte Gang-Therapeutin bei „PhysioSport“ im Media Park in Köln und will mir eigentlich nur bestätigen lassen, dass ich alles richtig mache. Nicole Hohmann macht klare Ansagen: „Keine Diagnose durch Telefon oder Hose.“ Also Jeans aus, kurze Hose an, die Knie müssen sichtbar sein, die Füße ebenfalls, also barfuß. Ich laufe eine kleine Strecke hin und zurück in meinem Tempo. Gefilmt wird von der Seite, von vorne und von hinten. Nicole Hohmann: „Es ist laut, wenn Sie auftreten. Sie benutzen die Wadenmuskulatur nicht ausreichend und sind wackelig im Knie.“ Und sie schickt hinterher, dass man Probleme mit der Achillessehne riskiert, wenn die Wadenmuskulatur nicht stark genug ist. Ich bin entsetzt, gucke mir mein Gang-Video an und sehe es selbst: Links rollt mein Fuß kaum ab, daher schiebe ich das Knie nach vorn. Weitere Tests ergeben, dass meine Po-Muskulatur zwar vorhanden ist, aber sie macht nicht das, was sie machen soll. Sie ist auch dafür verantwortlich, dass ich laut auftrete, da mein Becken nicht ausreichend von der hüftumfangenden Muskulatur gestützt wird. Mir fällt ein, dass mir oft gesagt wird: „Ich hab dich schon von weitem kommen hören.“ Weil ich den Stoß nicht dämpfe, den ich mit jedem Tritt an den Boden abgebe. Wer lange genug so läuft, dem tun irgendwann Knie, Rücken oder die Hüfte weh oder aber er bekommt Kopfschmerzen. Hohmann: „Wir sind froh, wenn die Menschen nicht erst kommen, wenn alles schmerzt.“

Veranstaltung und Buch

Veranstaltung: „Gehen verstehen“Wann: Samstag, 7. September, 16 UhrWo: studio dumont, Breite Straße 72, KölnExpertin im Gespräch: Kirsten Götz-Neumann, Gang-Diagnostikerin, Physiotherapeuten und Buchautorin des Standardwerks „Gehen verstehen“Moderation: Marie-Anne SchlolautKarten: 15 Euro, 13 Euro mit Abocard, jeweils inkl. VVK-Gebühren, ab sofort erhältlich, Abendkasse 17 Euro, 15 Euro mit Abocard, Abocard: 0221/ 28 03 44www.abocard.de/ticket, kölnticket: 0221/ 28 01 oder www.koelnticket.de

Buchtipp:„Gehen verstehen: Ganganalyse in der Physiotherapie“ (Physiofachbuch), 59,99 €.

pronova BKK