Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Versicherung zur BerufsunfähigkeitWenn die Psychotherapie zum Risiko wird

Lesezeit 8 Minuten
Mit einem Therapeuten reden hilft bei vielen Problemen.

Mit einem Therapeuten reden hilft bei vielen Problemen. Für die Versicherung kann das aber ein Problem sein.

Psychische Probleme sind der häufigste Grund, warum Menschen nicht mehr arbeiten können. Die Berufsunfähigkeitsversicherung hilft – wenn man eine bekommt.

Hauke Felsner war 28, als er versuchte, eine Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen. „Ich hatte Angst, mit leeren Händen dazustehen, falls ich eines Tages aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann“, erzählt der Berliner. Die Versicherung schickte ihm einen Antrag, in dem Felsner, der in Wirklichkeit anders heißt, Angaben zu seiner Gesundheit machen sollte. Der Erzieher füllte diesen ehrlich aus. Er gab an, gelegentlich unter Angstzuständen zu leiden, eine Therapie gemacht zu haben und auch heute ab und zu noch mal seinen Therapeuten zu konsultieren. „Vielleicht war das falsch“, sagt er. Denn eine Berufsunfähigkeitsversicherung hat er bis heute nicht. „Viele Versicherer fragen danach, ob man in den vergangenen fünf Jahren eine Psychotherapie gemacht hat oder aktuell in Behandlung ist“, sagt Lena Sington, Versicherungsexpertin der Stiftung Warentest. „Wer angibt, aktuell in Therapie zu sein, muss damit rechnen, keine Berufsunfähigkeitsversicherung zu bekommen.“

Immer mehr junge Leute sind betroffen

Dabei ist die Berufsunfähigkeitsversicherung eine der wenigen Versicherungen, die wirklich jeder haben sollte. Darin sind sich Verbraucherschützer und die Versicherungswirtschaft einig. Sie zahlt eine Rente, wenn man aus gesundheitlichen Gründen zu mindestens 50 Prozent berufsunfähig ist, also nicht mehr in seinem aktuellen oder einem vergleichbaren Beruf arbeiten kann, und dieser Zustand voraussichtlich auf Dauer, das heißt für mindestens sechs Monate, besteht. Und das passiert häufiger, als viele denken. „Statistisch gesehen wird jeder Vierte im Laufe des Arbeitslebens mindestens einmal berufsunfähig“, warnt Moritz Schumann, Vize-Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Ohne eine private Absicherung kann die Berufsunfähigkeit schnell zu einem finanziellen Fiasko werden. Denn die gesetzliche Rentenversicherung, die früher Menschen in einer solchen Notlage aufgefangen hat, hilft nur noch bedingt. Nur wer vor dem 2. Januar 1961 geboren ist, bekommt noch eine vergleichsweise auskömmliche gesetzliche Erwerbsminderungsrente. Bei Jüngeren ist das anders.

Depressionen als häufiges Leiden

Der häufigste Grund, warum Menschen nicht mehr arbeiten können, sind psychische Leiden wie Depressionen. Sie machen nach Angaben des GDV ein Drittel aller Fälle aus, Tendenz steigend. Bei einigen Versicherern sind die psychisch bedingten Versicherungsfälle noch höher: „Etwa 50 Prozent unserer BU-Leistungsfälle lassen sich auf eine psychische Erkrankung aus Ursache der Berufsunfähigkeit zurückführen“, sagt ein Sprecher des Lebensversicherers Debeka. Aber wie sollen sich Menschen absichern, die gefährdet sein könnten, aber wegen ihrer Vorgeschichte keine Versicherung bekommen? „Es ist nicht hinnehmbar, dass Menschen mit psychotherapeutischer Vorbehandlung vom Abschluss einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung ausgeschlossen oder mit unzumutbaren Bedingungen konfrontiert werden“, kritisiert die Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer, Andrea Benecke. Was das Problem verschärft: Die Zahl der jungen Menschen, die unter psychischen Problemen leiden, steigt. Unter den 18- bis 24-Jährigen schätzen sich 41 Prozent als psychisch krank ein, hat eine repräsentative Befragung im Rahmen des AXA-Mental Health Reports ergeben. 28 Prozent der unter 30-Jährigen haben 2023 von ihrem Hausarzt oder einem Psychotherapeuten die Diagnose bekommen, unter einer psychischen Störung zu leiden, schreibt das Robert-Koch-Institut. Das kann wie bei Hauke Felsner zum Problem werden. „Damit wird das größte Risiko für eine Berufsunfähigkeit, nämlich psychische Erkrankungen, oft systematisch vom Versicherungsschutz ausgeschlossen, was für die Betroffenen existenzielle Folgen haben kann“, warnt Andrea Benecke.

Berufsunfähigkeitsversicherung besser, solange man jung ist

Dabei sollte man eine Berufsunfähigkeitsversicherung möglichst in jungen Jahren abschließen, empfiehlt die Versicherungswirtschaft. Denn je länger man wartet, desto höher wird der Beitrag. Ein Rechenbeispiel: Für eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente von 1500 Euro bis zum 67. Lebensjahr müsste ein 28-jähriger Erzieher bei der Allianz Leben 138 Euro im Monat zahlen, bei einer Kollegin, die den Vertrag erst mit 40 Jahren unterschreibt, steigt der Beitrag auf 174 Euro. Die Berechnungen beziehen sich auf Gesunde. Individuelle Preisaufschläge oder Versicherungsausschlüsse wegen psychischer Probleme sind nicht einberechnet. Nachdem die Versicherer jahrelang gemauert haben, gibt es jetzt aber Hoffnung für Menschen mit psychischen Problemen. „Es ist heute nicht mehr ausgeschlossen, dass man eine Berufsunfähigkeitsversicherung bekommt, obwohl man in Psychotherapie ist oder war“, sagt Sandra Klug, Versicherungsexpertin der Verbraucherzentrale Hamburg. „Viele Versicherer differenzieren inzwischen nach dem Grund der Therapie. Wenn jemand etwa wegen einer Trennung oder eines Todesfalls zehn Stunden in Therapie war, dürfte das kein Grund für eine Ablehnung sein.“ Anders sähe es aus, wenn man Psychopharmaka nehmen müsse. Einer der ersten Versicherer, der Menschen trotz diagnostizierter Depression gegen Berufsunfähigkeit versichert hat, war die Bayerische.

Inzwischen haben einige Unternehmen nachgezogen, darunter die Allianz Leben, die Debeka und die Zurich. Lena Sington von der Stiftung Warentest findet, alle Anbieter sollten so verfahren. „Als Folge von Corona haben auch viele junge Menschen eine Therapie begonnen. Es wäre fatal, ihnen daraus einen Strick zu drehen“, sagt die Verbraucherschützerin. Bevor die Debeka über einen Antrag entscheidet, will sie vom Arzt oder Therapeuten die genaue Diagnose, den bisherigen Krankheitsverlauf, die Art der Therapie und die Beschwerde- und Behandlungsdauer erfahren. „Je nach Diagnose ist es möglich, dass wir unter einer noch laufenden Behandlung einen Berufsunfähigkeitsversicherungsschutz zu normalen Bedingungen darstellen, einen Risikozuschlag oder einen Leistungsausschluss anbieten oder einen Antrag bis zum Abschluss einer Behandlung zurückstellen müssen“, heißt es auf Anfrage. Besonders genau prüft die Versicherung nach Klinikaufenthalten. „Stationäre Behandlungen deuten meist auf einen schwereren Krankheitsverlauf hin. Dabei ist es wichtig, weshalb dieser erfolgte und andauerte.“ Immer mehr Unternehmen öffnen sich für Menschen mit psychischen Problemen. Für Betroffene heißt das: „Wer in Therapie war oder ist und eine Versicherung abschließen möchte, sollte es versuchen“, rät Verbraucherschützerin Klug. Aber dabei sollten Sie Folgendes beachten:

Stellen Sie Ihre Anfrage anonym

Die Versicherungswirtschaft hat ein Warn- und Hinweissystem, in dem sie Daten austauscht, das HIS-System. Es soll Versicherungsbetrug verhindern und Risiken für die Versicherer minimieren. Um zu verhindern, dass man als schlechtes Risiko in der Datenbank landet, sollte man die Abfrage für eine Berufsunfähigkeitsversicherung möglichst zunächst anonym stellen, rät Sandra Klug. Das kann man nicht selbst tun, sondern man braucht dazu einen Versicherungsberater oder einen Versicherungsmakler. Die anonyme Abfrage hält die Verbraucherschützerin übrigens nicht nur für Menschen mit psychischen Erkrankungen für sinnvoll, sondern auch für solche, die sich für gesund halten. „Manchmal täuscht man sich und die Versicherer bewerten Ihre Gesundheit anders als Sie“, gibt Klug zu bedenken. Allerdings gibt es auch Hoffnung für diejenigen, die bereits eine Ablehnung bekommen haben. Denn die meisten Berufsunfähigkeitsversicherer nehmen inzwischen nicht mehr an der HIS-Datei teil. „Wir nutzen die HIS-Datei seit fast zehn Jahren nicht mehr“, heißt es bei der Allianz Leben. Auch die Zurich und die Debeka verfahren so. Dennoch rät Klug vorsichtshalber zur sicheren Variante, und das ist die anonyme Abfrage.

Seien Sie ehrlich

Menschen, die es sich leisten können, bezahlen ihre Psychotherapie privat, damit diese nicht in den Krankenakten auftaucht und sie die Behandlung im Fragebogen des Versicherers zur Gesundheit verschweigen können. Aber das ist keine gute Idee. „Lügen Sie nicht, verschweigen Sie nichts“, mahnt Verbraucherschützerin Klug. Denn Falschangaben können dazu führen, dass der Versicherer nicht zahlt, wenn Sie berufsunfähig werden. Und dann haben Sie eventuell Zehntausende Euro, die Sie als Beitrag gezahlt haben, in den Sand gesetzt. Wer glaubt, dass die Versicherung von privat bezahlten Therapien nichts erfährt, irrt. Ein klassischer Fall: Man geht zum Arzt, weil man sich müde fühlt. Der Arzt fragt, ob man psychische Probleme hat, in Therapie war oder ist, um eine Depression auszuschließen. In einem solchen Moment antworten fast alle Menschen ehrlich und denken nicht an ihre Berufsunfähigkeitspolice. „Und schon steht das in Ihrer Patientenakte und der Versicherer erfährt davon, wenn Sie berufsunfähig werden sollten“, warnt Klug. Tipp: Wenn Sie in Therapie waren, bitten Sie Ihren Therapeuten um eine Bescheinigung, dass die Therapie erfolgreich war.

Welche Informationen Sie angeben müssen

Wenn die Versicherer nach Therapien fragen, so tun sie das in aller Regel für einen begrenzten Zeitraum. Manche wollen wissen, was in den vergangenen drei Jahren war, andere fragen nach den vergangenen fünf Jahren. Wenn Sie also vor vier Jahren in Therapie waren und Sie wollen eine Berufsunfähigkeitsversicherung bei einem Versicherungsunternehmen abschließen, das sich die vergangenen fünf Jahre anschaut, sollten Sie einfach noch ein Jahr warten. Oder Sie gehen zu einem Versicherer, der sich nur nach den vergangenen drei Jahren erkundigt.

Was Risikoaufschlag oder -ausschluss bedeuten

Bei Vorerkrankungen versuchen die Versicherer ihr Risiko zu senken. Sie haben dazu zwei Möglichkeiten: Sie können die betreffende Vorerkrankung vom Versicherungsschutz ausschließen. Haben Sie beispielsweise angegeben, unter Depressionen zu leiden oder unter Bandscheibenvorfällen, kann die Versicherung bestimmen, dass sie nicht zahlt, wenn Sie wegen dieser Erkrankung später berufsunfähig werden. Die zweite Variante ist: Die Versicherung erhebt einen Risikozuschlag auf den Beitrag, und der kann hoch sein. Bei sozialer Phobie wie im Fall von Hauke Felsner und einem Jahr Symptomfreiheit geht die Allianz Leben etwa von einem Zuschlag in Höhe von 75 Prozent aus. Wer das zahlen kann, sollte Variante zwei wählen, empfiehlt Sandra Klug von der Verbraucherzentrale: „Je größer der Schutz, desto besser.“

Diese Alternativen gibt es

Man könnte eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung abschließen. Diese funktioniert ähnlich wie eine Berufsunfähigkeitsversicherung, ist aber nicht an einen bestimmten Beruf gebunden. Sie zahlt, wenn Sie aus psychischen und körperlichen Gründen gar nicht mehr arbeiten können. Das Problem: Beim Antrag müsste man dieselben Gesundheitsfragen beantworten wie bei der Berufsunfähigkeitsversicherung. Bei einer Unfallversicherung würde man sich die Gesundheitsprüfung zwar sparen, aber sie zahlt nur für bleibende Schäden, die durch einen Unfall hervorgerufen worden sind. Eine Dread-Disease-Versicherung sichert das Risiko von schweren Krankheiten wie Krebs ab. Erkrankt man daran, erhält man allerdings keine Rente, sondern eine Einmalzahlung. Weiteres Problem: Die versicherten Krankheiten sind detailliert und abschließend aufgelistet. „Wenn Sie nur leicht davon abweichen, leistet die Versicherung nicht“, warnt Verbraucherschützerin Klug. Infrage käme einzig eine Grundfähigkeitsversicherung, meint sie. Eigentlich ist sie dazu gedacht, essenzielle Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Anfassen abzusichern, „Einige Versicherer bieten aber auch eine Absicherung bei psychischen Krankheiten an“, sagt Klug.

Dieser Artikel erschien zuerst im „Tagesspiegel“ in Berlin.