Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

„Aggressives Zuwarten“Warum Ärzte bei sich selbst oft erstaunlich konservativ sind

3 min
Eine Ärztin steht vor einer Glaswand und hält sich angestrengt den Kopf.

Wenn Ärztinnen und Ärzte selbst zu Patienten werden, wählen sie häufig eine unaufgeregte Alternative der Behandlung.

Wenn es um sie selbst geht, sind Medizinerinnen und Mediziner oft konservativ. Dr. Magnus Heier erklärt das an zwei Beispielen.

Jeder Arzt wird früher oder später auch selbst zum Patienten. Mit Glück bei einem befreundeten und klugen Kollegen. Und dann passiert oft Erstaunliches: Beide werden plötzlich konservativ. Die Bandscheibe, das Knie, den schmerzenden Rücken könnte man operieren. Oder Spiegeln. Oder Spritzen. Oder was auch immer bei dem jeweiligen Symptom möglich wäre. Sehr oft gibt es aber noch eine unaufgeregte Alternative: abwarten. Oder „aggressiv zuwarten“, wie ein medizinischer Aphorismus das Nichtstun launig umschreibt. Das muss nicht falsch sein.

Magnus Heier

Magnus Heier

ist Autor und Neurologe und schreibt die wöchentliche Medizinkolumne „Aus der Praxis“. ...

mehr

Ein Fallbeispiel aus dem eigenen Körper, dem linken Knie: Der befreundete Chirurg spricht unangenehm bildhaft. Normalerweise sei die Gelenkoberfläche glatt wie nasser Marmor. Meine sei eher wie ein „Flokati mit langen Fransen, die in den Gelenkspalt hineinragen“. Logisch, dass das wehtut. Man könne das Knie jetzt spiegeln. Hinter dem unschuldigen Wort verbirgt sich eine endoskopische Operation: Chirurg oder Orthopäde schieben eine dünne Sonde in die Gelenkkapsel. Zur Diagnostik und auch zur Behandlung: So werde etwa die Gelenkoberfläche „geglättet“.

Klingt sehr plausibel. Ist aber umstritten. Außerdem besteht das Risiko einer Infektion. Die sehr selten ist, wenn aber doch, sehr, sehr unangenehm. Ich möchte Risiken und Nutzen hier gar nicht gegeneinander aufrechnen (Studien erlauben gegensätzliche Argumentationen). Aber die eigene Entscheidung war eindeutig: abwarten. Aber nicht schonen! Stattdessen drei Arten von Bewegungsübungen machen, die eine ärztliche Freundin empfohlen hat (sie ist doppelt kompetent, sowohl als Krankengymnastin als auch als Anästhesistin). Beide, die Freundin und der Chirurg, rieten von einer sofortigen Gelenkspiegelung ab. Ich mir selbst auch. Das Resultat: Dem Knie geht es wieder besser. Aggressives Zuwarten eben.

Es wird oft zu schnell, zu viel, zu invasiv behandelt

Ein zweites, ebenfalls persönliches Fallbeispiel für ärztliche Zurückhaltung: Der Patient hat ein schweres Aneurysma an der aufsteigenden Aorta – die große Körperschlagader ist direkt hinter dem Herzausgang zu breit, gleichsam ausgesackt. Die Operationsindikation ist eigentlich eindeutig, es gibt entsprechende Zahlen. Aber ist das wirklich die richtige Entscheidung? Das OP-Risiko ist erheblich. Umgekehrt ist nicht klar, wie häufig eine solche Aussackung ohne Operation platzt – was dann aber fast immer tödlich wäre. Darüber fehlen die Zahlen. Eine Entscheidung um Leben und Tod. Nach mehreren Beratungen mit wirklich guten Fachleuten, nach Sichtung der Studienlage, nach langen Gesprächen haben wir schließlich abgewartet. Es hätte schiefgehen können. War aber letztlich die richtige Entscheidung.

Bin ich gegen Operationen? Stents? Implantate? Überhaupt nicht! Was das Verhalten von Ärztinnen und Ärzten aber überdeutlich zeigt: Es wird oft zu schnell, zu viel, zu invasiv behandelt. Es ist für Nicht-Ärzte schwer, sich dagegen zu wehren. Aber Sie können einen zweiten Arzt fragen. Und wenn sie oder er von einer sofortigen Therapie abrät, könnten Sie beruhigt „aggressiv zuwarten“.