Im Interview erklärt der Psychologe und Hirnforscher Christian Montag, warum er ein Verbot für unter 13-Jährige fordert und weshalb Eltern TikTok selbst ausprobieren sollten.
Hirnforscher zu Social Media„Eltern müssen die Faszination TikTok erst verstehen“

Kann das gesund sein? Fast die Hälfte der Sechs- bis 13-Jährigen in Deutschland gibt an, fast täglich soziale Netzwerke zu nutzen.
Copyright: Alicia Windzio/dpa
In einem Diskussionspapier zum Umgang mit Sozialen Medien haben führende Wissenschaftler eindringlich vor den Folgen des Konsums für Kinder und Jugendliche gewarnt. Doch welche Schäden befürchten die Forscher eigentlich? Darüber sprach Lucas Wiegelmann mit Hirnforscher und Psychologe Christian Montag, einem der Autoren des Papiers.
Herr Montag, wie viel Zeit haben Sie heute schon mit Social Media verbracht?
Vielleicht zwei Minuten. Einmal LinkedIn kurz aufgemacht, das hat heute gereicht.
Was macht Ihnen Spaß in den Netzwerken?
Ich mag einfach den Austausch mit Menschen. Darüber hinaus ist die Idee, dass man als einzelne Person zu vielen anderen sprechen kann, eine sehr attraktive Erfindung.Sie gehören zu den Autoren eines Diskussionspapiers der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, in dem gewarnt wird, die sozialen Netzwerke könnten unsere Kinder und Jugendlichen krank machen.
Was befürchten Sie?
Im vergangenen Jahr ist in Amerika das Buch eines Psychologen namens Jonathan Haidt erschienen, der die These vertritt: Smartphones und Social Media sind zumindest mit schuld an den seit Jahren zunehmenden psychischen Probleme junger Amerikaner. Das Buch hatte zwar methodische Schwächen, weil es meines Erachtens die Forschungsliteratur zu einseitig beleuchtet hat. Aber dass es zumindest Risiken gibt, ist eindeutig, und darauf müssen wir jetzt reagieren, nicht erst, wenn es zu spät ist.

Schülerinnen sitzen im Foyer eines Gymnasiums auf einer Freitreppe und halten jeweils ein Smartphone.
Copyright: Sebastian Kahnert/dpa-Zentralbild/dpa
Welche Risiken sind das?
Ein Thema ist natürlich der ganze Bereich der jugendgefährdenden, also nicht altersgemäßen Inhalte, denen Minderjährige auf den Plattformen ausgesetzt sind, also Pornografie, Gewalt, womöglich auch unbemerkte politische Beeinflussung. Zweitens kann das Konsumieren von mit Filtern bearbeiteten, unrealistischen Körperidealen bei jungen Menschen zu Körperunzufriedenheit und Essstörungen führen, vor allem bei Mädchen. Und schließlich gibt es die große Frage, ob soziale Medien wirklich psychisch süchtig machen können. Darüber wird in der Forschung zwar noch sehr kontrovers diskutiert, weil Sucht ein hartes Label ist. Wir wollen keine Alltagshandlungen pathologisieren. Aber zumindest zielt das Geschäftsmodell vieler Tech-Konzerne nachweislich darauf ab, die Online-Zeiten der Nutzer so weit wie möglich zu verlängern. Je besser sie das schaffen, desto weniger Zeit bleibt logischerweise Kindern und Jugendlichen für wichtige Entwicklungsaufgaben. Im Papier der Leopoldina ist stets von „potenziellen“ Risiken sozialer Medien für die Gesundheit junger Menschen die Rede.
Das klingt, als seien Sie selber nicht so ganz sicher.
Wir sind schon relativ gut im Beschreiben der Zusammenhänge. Wir können zum Beispiel sehen, dass, wer zu einer suchtähnlichen Nutzung neigt, auch eher von depressiven Tendenzen oder eben von Körperunzufriedenheit berichtet. Nur: Es gehört zur menschlichen Natur, dass bei psychischen Erkrankungen immer ganz viele Faktoren eine Rolle spielen, von äußeren Einflüssen bis zu den persönlichen Erbanlagen. Um also die konkrete Rolle von Social Media als Ursache für psychische Schäden zu beweisen, braucht es noch mehr und andere Forschung, die erst allmählich entsteht. Anfang des Jahres wurde zum Beispiel eine Studie veröffentlicht, bei der man einigen Teilnehmern Smartphones mit geblockter Internetfunktion in die Hand gab. Nach nur einer Woche mit diesem Offline-Handy gingen bei den Leuten die Aufmerksamkeitsleistung und das persönliche Wohlbefinden bereits messbar nach oben. Von solchen Untersuchungen brauchen wir mehr.
Neben psychischen Schäden ist in der Stellungnahme der Leopoldina auch von motorischen Schäden die Rede, die von sozialen Medien ausgehen können. Heißt das, wenn Kinder sich zu viele Katzenvideos angucken, fangen sie irgendwann an, krumm zu gehen?
Wir wissen, dass für alle Säugetiere inklusive des Menschen der körperliche Spieltrieb eine wichtige evolutionäre Aufgabe erfüllt: Sich zu bewegen, herumzutollen und miteinander zu rangeln, kann zu besserer Grobmotorik und sozialen Kompetenzen führen. Es gab zudem Experimente mit jungen Ratten, die zeigen, dass Spielen sogar ADHS-Tendenzen reduzieren könnte. Wenn ein Kind nur noch am Handy hängt, statt auf den Spielplatz zu gehen, wird es diese positiven Effekte des Spielens weniger verspüren können.
Woran erkenne ich, dass mein Kind ein Problem mit Social Media hat?
Die Forschung zeigt, dass die reine Zeit, die jemand im Netz verbringt, nicht unbedingt der entscheidende Punkt ist. Damit meine ich nicht, dass Kinder viel Zeit online verbringen sollen, der Inhalt spielt aber natürlich eine Rolle. Außerdem geht es mehr um auffällige Verhaltensweisen: Schafft mein Kind es überhaupt noch, den Konsum mal zu reduzieren, wenn es will? Oder hat Social Media schon einen so großen Stellenwert, dass andere Dinge leiden, man kommt zur spät zur Schule, weil man am Vorabend noch so lange online war oder Ähnliches? Das wären Anzeichen für erste Probleme.
Was können Eltern tun?
Ich bin selbst Papa von zwei Kindern. Der Punkt ist ja: Meine Generation ist noch mit Facebook aufgewachsen und glaubt, dann versteht sie auch TikTok. Wir sollten uns aber schon die Mühe machen, die Faszination heutiger Internet-Phänomene erst einmal nachzuvollziehen, auch im Sinne der Popkultur. Das heißt, wir müssen dann auch TikTok selbst ausprobieren. Nur wenn wir verstehen, was unsere Jugend daran interessant findet, können wir auch mit unseren Kindern fair darüber diskutieren, wie das Ganze vielleicht nicht überhandnimmt. Ich bin aber auch überzeugt, dass wir zusätzlich klare staatliche Regulierung brauchen, zum Beispiel ein echtes Verbot sozialer Medien für Unter-13-Jährige. Das ließe sich mit einer digitalen Ausweispflicht relativ leicht durchsetzen. Dann hätten wir schon mal keine kleinen Kinder mehr, die sich auf TikTok herumtreiben. Für die älteren Jugendlichen müssten die Plattformen dann so sicher sein, dass dort keine für sie schädlichen Inhalte mehr zu sehen sind.
Sie selbst leben und forschen in China. Wie wird die Debatte um Jugendschutz und Social Media dort geführt?
Strenger. Zum Beispiel verfügt die Plattform Douyin, die chinesische Version von TikTok, über Zeitbeschränkungen für unter 14-Jährige. Außerdem zeigen die Betreiber vermehrt Bildungsinhalte an. Technisch ist das alles machbar. Es braucht nur den politischen Willen.

