Kölner Psychologin„Chillen und endloses Serienschauen offenbart depressive Züge“

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Fünf Millionen Menschen leiden in Deutschland an Depressionen.

  • Depressive Menschen haben oft zu hohe Ansprüche an sich selbst.
  • Nur wer das Wesen einer Depression versteht, kann sie überwinden, sagt die Kölner Psychologin Birgit Langebartels.
  • Mit ihrem Team konnte sie bei Betroffenen sechs Phasen einer Depression identifizieren.

Köln – Frau Langebartels, Sie schreiben in Ihrem Buch „Leben im Leerlauf“, dass Depressionen ein Phänomen unserer Zeit sind.

Das ist richtig. Jede Zeit bringt ihre typischen Trends und Ausprägungen mit sich. Und so ist es auch mit Krankheiten. Es gibt selbst bei Krankheiten Modeerscheinungen oder Volkskrankheiten. Bei über fünf Millionen Betroffenen in Deutschland kann man schon sagen, dass Depression eine typische Erkrankung unserer Zeit ist – auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht gar nicht in unsere Kultur, in der es um Schnelligkeit, Effizienz und Perfektion geht, hineinzupassen scheint. Aber nur auf den ersten Blick. Paradoxerweise passt sie genau in unsere Zeit.

Inwieweit?

Für unsere Untersuchungen am Rheingold Institut haben wir diverse Studien durchgeführt und dabei eine Vielzahl an Tiefeninterviews mit verschiedensten Personengruppen geführt. Bemerkenswert ist, dass in all diesen Gesprächen – also auch in solchen, in denen es nicht direkt um das Thema Depression ging – ein roter Faden ersichtlich war.

Alle – und eben nicht nur die von einer depressiven Erkrankung betroffenen – leiden heutzutage unter denselben Nöten, haben die gleichen Sehnsüchte und sehen sich ähnlichen Herausforderungen gegenüber. Depression ist eine Form – wenn auch eine sehr leidvolle – mit den übersteigerten Ansprüchen unserer kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit umzugehen.

Besinnungslose Betriebsamkeit spornt an, führt aber auch zu Überforderung

Was macht die heutige Zeit so problematisch?

Wir leben in einer Zeit, in der uns nie gekannte Möglichkeiten verheißen werden. Erziehung, Bildung, Gesellschaft, Medien: Alle rufen einem zu, dass wir scheinbar alles erreichen können, wenn wir nur wollen und genug dafür tun. Aber anstatt uns für eine Richtung zu entscheiden oder Schwerpunkte zu setzen, geraten wir in eine besinnungslose Betriebsamkeit nach allen Seiten.

Diese Betriebsamkeit spornt uns einerseits an, führt aber auch unweigerlich zu Überforderung. Jede Form von Festlegung auf eine Sache wird heute als eine Reduktion, als ein Weniger empfunden. Kennzeichnend für Menschen mit Depressionen ist, dass sie extrem hohe Anforderungen an sich selbst und das Leben haben. Sie halten an bestimmten Idealbildern fest und können die ganz normalen Beschränkungen im Leben nicht hinnehmen, sondern empfinden sie als tiefe persönliche Kränkung, als Scheitern auf ganzer Linie.

Anstatt sich mit den überhöhten eigenen Ansprüchen auseinanderzusetzen und sie vielleicht auch zu revidieren, ziehen sie sich immer weiter zurück und geraten in eine Art Stilllegung. Wichtig ist mir jedoch zu betonen, dass sie dies nicht freiwillig tun. Sie erleben es so, als würde es mit ihnen gemacht und es bedeutet großes Leid für sie.

Buchtipp

Birgit Langebartels, „Leben im Leerlauf. Die verborgene Logik der Depression verstehen. Wege aus der Ohnmacht“, Beltz  Verlag, 240.S., 18,95 Euro

Gibt es Menschen, die besonders gefährdet sind, in diese Stilllegung hineinzugeraten?

Tatsächlich sind Menschen, die sich in einer Übergangsphase in ihrem Leben befinden, anfälliger, denn Übergänge sind für uns Menschen per se schwierig, so notwendig sie für unsere Entwicklung auch sind. Wir merken, dass wir etwas Altes abschütteln sollten, aber wir wissen noch nicht, was das Neue uns bringen wird.

Diese Ungewissheit ist schwer auszuhalten, also halten wir manchmal lieber am Altem fest. Working Mums, die zuhause und im Job perfekt sein wollen, Frauen in der Lebensmitte, die sich nach dem Auszug der Kinder neu definieren müssen, Männer, die mit einem veränderten Männerbild innerhalb der Gesellschaft klarkommen müssen, aber auch Kinder und Jugendliche befinden sich in solch prototypischen Übergangsphasen.

Jugendlichen stehen heute wie keiner Generation vorher alle Möglichkeiten offen. Und zugleich haben sie eine sehr große Angst, sich zu blamieren und abzustürzen. Unglaubliche Verheißungen eines glanzvollen Aufstiegs und die Angst vor bodenlosen Abstürzen sind heute so nah beieinander wie nie zuvor. Durch die Digitalisierung wird heute vieles ermöglicht, zudem aber ein immenser Druck aufgebaut, Ziele sofort zu erreichen.

Chillen und Serienschauen in Endlosschleife offenbaren depressive Züge

Nimmt die Zahl der depressiven Kinder und Jugendlichen denn zu?

Die Belastung nimmt auf jeden Fall zu. Es ist aber ein Tabu, dass Kinder und Jugendliche unter Depressionen leiden. Das kommt bei ihnen dann verdeckter daher. Das dauerhafte Chillen oder das Serienschauen in Endlosschleife etwa– darin sind mitunter depressive Züge erkennbar. Jugendliche kapitulieren oft davor, sich für etwas zu entscheiden.

Im Buch vergleichen Sie die Depression mit schwarzen Löchern im All.

Ich habe diese Analogie gewählt, weil die Betroffenen es selbst so beschreiben, sie haben das Gefühl samt ihrer Welt im Nichts zu verschwinden, wie in einem schwarzen Loch. Ich würde mir wünschen, dass wir Depression, jenes seelische schwarze Loch, nicht nur als Geißel unserer Zeit ansehen, sondern ihre innere Logik aufzeigen und sie so verstehbarer machen.

So wie wir die schwarzen Löcher unseres Universums erst allmählich verstehen lernen, ist es auch wichtig, die Logik und den Sinn der seelischen schwarzen Löcher zu ergründen. Gelingt uns das, lernen wir nicht nur etwas über das Funktionieren unseres Seelenlebens, sondern auch viel über uns selbst und über die Gesellschaft, in der wir leben.

Wenn wir die Depression also als Ausdruck des Seelischen verstehen, mit den An- und Überforderungen unserer Zeit umzugehen und nicht als etwas schicksalhaft Gegebenes, das uns anfällt wie ein wildes Tier, dann können wir auch Wege finden, die wieder aus ihr herausführen.

Was haben Sie in Ihren Gesprächen denn als Wesen der Depression ausgemacht?

Der Weg in die Depression ist zu verstehen als ein verzweifelter Versuch, sich in unserer Machbarkeitskultur dem Konflikt zu entziehen, der sich zwangsläufig ergibt aus den überhöhten Ansprüchen auf der einen Seite und dem erlebten Scheitern angesichts der begrenzten Möglichkeiten auf der anderen Seite.

Damit will ich sagen: Beschränkungen in unserem Leben sind normal, wir können nicht immer alles, das kann keiner. Typisch für Menschen in einer Depression ist jedoch, dass sie eine Begrenzung ihrer Möglichkeiten als ein Scheitern auf ganzer Linie erleben und sich in eine Abwertungsspirale hineinbewegen. Wenn etwas nicht gelingt, sollte immer auch eine Auseinandersetzung mit den Ansprüchen stattfinden: Warum hat etwas nicht so funktioniert? Was hätte ich anders machen können? Warum ist es mir so wichtig, dass ich dieses Ziel erreiche? Und nicht zuletzt, ist es passend in meinem momentanen Alltag?

In einer Depression halten Menschen an etwas fest, ohne sich wirklich damit auseinanderzusetzen. Tatsächlich konnten wir bei den Betroffenen sechs Phasen identifizieren, in denen eine Depression offensichtlich verläuft.

Überhöhte Ansprüche und Ideale

Welche sind das?

Kennzeichnend für alle Betroffenen war, dass sie von Anfang an durch überhöhte Ansprüche und Ideale getrieben sind, die sie in ihrem Alltag unweigerlich an ihre Grenzen gebracht haben. Die daraus folgende, eigentlich völlig normale Einschränkung wird von ihnen als tiefe Kränkung empfunden. Den Betroffenen zieht es sprichwörtlich den Boden unter Füßen weg.

Sie stellen ihre Ansprüche nicht infrage und ziehen sich zurück. Diese „Stilllegung“ ist aber keineswegs erholsam, sondern führt eher dazu, dass die Betroffenen den Alltag immer weniger bewältigen können. Nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip verschwimmen „Wichtig“ und „Unwichtig“, was dazu führt, dass Menschen in der Depression irgendwann glauben, gar nichts mehr zu schaffen. Der Alltag wird gleichgültig.

Es folgt die Phase des „inneren Heißlaufens“. Wie Getriebene laufen die Betroffenen wie im Leerlauf, die Gedanken kreisen unentwegt, sie kommen weder zur Ruhe noch von der Stelle. Die letzte Phase ist die des resignierten Tunnelblicks. Menschen, die an einer Depression leiden, schauen resigniert auf sich selbst und die Welt. Sie fühlen sich ohnmächtig.

Für viele geht es dann nur noch um eine verbitterte Behandlung von körperlichen Symptomen. Indem man versucht, seine Symptome in den Griff zu bekommen, hat man das Gefühl, wenigstens etwas in der Hand zu haben. Der Alltag aber wird nicht in den Griff genommen.

Analogie zu Rumpelstilzchen

Sie setzen in Ihrem Buch die Struktur einer Depression in einen Kontext mit dem Märchen Rumpelstilzchen.

In der morphologischen Psychologie arbeiten wir viel mit Märchen. Ich veranschauliche die Struktur der Depression in meinem Buch ‚Leben im Leerlauf‘ mit dem Märchen Rumpelstilzchen und verwende die Geschichte der Müllerstochter als Analogie für die innere Logik einer Depression.

Auch in Rumpelstilzchen geht es um überhöhte Ansprüche, darum etwas Unmögliches zu schaffen, nämlich Stroh zu Gold zu machen. Aber dies kann kein Mensch. Anstatt nun zu sagen, dass dies menschenunmöglich ist, zieht sich die Müllerstochter in die stille Kammer zurück, zentriert sich nur noch auf die Frage, wie sie das Unmögliche schaffen kann und gerät in eine unglaubliche Notlage, aus der sie alleine nicht herauskommt.

Das Streben danach, dieses Ideal zu erreichen, macht blind: dafür, richtig einzuschätzen, was realistisch machbar und was unmöglich ist, und insbesondere auch dafür, welchen Preis man zahlen muss. Dafür ist die Müllerstochter im Märchen sogar bereit ihre Lebendigkeit, ihr Kind, zu opfern.

Ähnlich dazu erleben sich auch die Betroffenen in ihrer Depression in einer sehr leidvollen und oft dramatischen Enge, die ihnen keinen Bewegungsspielraum lässt. Bleibt es nun – wie im Märchen – in der dunklen Kammer und geht es nur noch darum, das Unmögliche möglich zu machen, ändert sich nichts. Es braucht den Richtungswechsel und den anderen Blick auf den Alltag, raus aus der Kammer, raus aus dem Alles-oder-nichts-Prinzip.

Im Märchen ist dies das Kundschaften, hinaus in die Welt. Die Müllertochter nennt Rumpelstilzchen beim Namen und offenbart die Unmöglichkeit für sie, Stroh zu Gold zu spinnen. Lösung aus dem Dilemma ist es, zuzulassen: wir können zwar nicht alles, aber wir können etwas machen.

Inwieweit hilft das Wissen um das Wesen der Depression denn, um aus ihr herauszufinden?

Mein Anspruch ist es, durch die Beschreibung der sechs Phasen der Depression und der Wege heraus, das ein oder andere Aha-Erlebnis bei Betroffenen und Angehörigen zu erreichen. Zudem wünsche ich mir, dass die Beschreibung unseres derzeitigen gesellschaftlichen Klimas Betroffenen eine Entlastung ist, indem sie merken, dass sie weder schuld an ihrer Erkrankung, noch alleine damit sind.

Deutlich wird in dem Buch auch: Grenzen zur Depression sind fließend und wir tun ein Gutes daran, bereits bevor wir ernsthaft daran erkranken, genau hinzuschauen und gut für uns zu sorgen. Durch die vielen Fallbeispiele können sich Betroffene mit ihrem Erleben wiedererkennen. Ich möchte Betroffene animieren mal etwas „anders“ zu machen. Natürlich reicht das Wissen um die sechs Phasen alleine nicht, um aus einer Depression herauszukommen.

Es geht vielmehr darum, zu erkennen, wie man seine Sicht auf bestimmte Dinge verändern muss. Da hilft es, sich zusätzlich professionelle Hilfe zu holen. Ich bin aber davon überzeugt: Wir haben mehr in der Hand gegen die Depression als wir glauben.

Weg der kleinen Schritte

Zum Beispiel?

Dass man die eigenen Ansprüche relativiert und Ideale entthront, dass man dahin kommt, nicht immer alles schaffen zu wollen, sondern auch kleine Erfolge wertschätzt. Es ist wichtig, den Mantel des Schweigens abzulegen und über seine Gefühle zu sprechen. Wir müssen wieder lernen, Prioritäten zu setzen.

Wenn wir spüren, dass uns etwas wichtig ist, geben wir Menschen, Dingen und Tätigkeiten wieder Sinn und kommen zurück ins aktive Leben. Letztlich geht es darum, von der ersehnten „All-Macht“, alles in der Hand zu haben, wieder zum Alltag zu finden. Der Alltag ist der Königsweg raus aus der Depression. Denn im alltäglichen Tun können wir erleben, dass wir zwar nicht alles, aber etwas bewirken können. 

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