Pflegekrise in DeutschlandDie problematische Mär von der „24-Stunden-Pflege“

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ILLUSTRATION - 05.12.2012, Berlin: Eine junge Frau hält die Hände eines alten Mannes.

Viele Menschen bevorzugen eine Pflege zuhause.

Viele betreuungsbedürftige Menschen in Deutschland setzen auf die Hilfe von Arbeitskräften aus Osteuropa. Experten fordern, deren oftmals prekäre Lage endlich in den Blick zu nehmen.

„Liebevolle 24-Stunden-Pflege zu fairen Kosten“. Oder: „Bezahlbare 24h-Pflege mit Herz“. In etlichen Internetpräsenzen finden sich derartige Versprechen von Vermittlungsagenturen, die auf den Bedarf von Familien abzielen, ihren pflegebedürftigen Angehörigen eine würdige und zugleich finanzierbare ambulante Hilfestellung im Alltag zu organisieren.

Viele Menschen setzen dabei auf die Unterstützung von Fachkräften aus Osteuropa, die meist von ihren heimischen Arbeitgebern nach den Regeln des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes über in Deutschland ansässige Agenturen an die Privathaushalte vermittelt werden.

Schlechte Bezahlung, Isolation und lange Einsatzzeiten

Geschätzt 500.000 bis 600.000 Betreuerinnen und Betreuer, vor allem aus Polen und anderen östlichen EU-Staaten, sind hierzulande in der so genannten 24-Stunden-Pflege beschäftigt. Für Michael Isfort wird die Versorgung alter Menschen durch diese so genannten „Live-ins“ maßgeblich stabilisiert. „Sie sind systemrelevant“, sagt der Professor für Pflegewissenschaft an der Katholischen Hochschule NRW in Köln.

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Seit Jahren schon beklagen Fachleute jedoch die Alltagsrealität, die für die Arbeitskräfte häufig aus überlangen Einsatzzeiten, schlechter Bezahlung und sozialer Isolation besteht. Isfort diagnostiziert gar ein „politisch toleriertes Systemversagen auf dem Rücken vor allem von Frauen in ökonomisch prekären Lebenslagen und Familien mit unklarer Versorgung“.

Umso mehr drängt er darauf, dass sich die Politik endlich der Sache annimmt. Seit Jahren, sagt Isfort, gebe es kaum mehr als Willensbekundungen. Die Ampelregierung formulierte zwar in ihrem Koalitionsvertrag vom Dezember 2021: „Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich.“ Seither, so Isfort, sei das Thema „erneut schlichtweg aus dem Blick gerückt“. Thomas Eisenreich, Geschäftsführer des Branchenverbandes BdB, der die ambulanten Pflege- und Betreuungsdienste vertritt, sagt, politisch lasse sich diese „Ausbeutung“ bei einem zugleich ansteigenden Schutz inländischer Arbeitnehmer nicht mehr erklären.

Auch hier gilt der Mindestlohn

Dabei bewegen sich die Live-ins keineswegs im arbeitsrechtsfreien Raum. Der Lohn muss mindestens dem deutschen Mindestlohn – seit dem 1. Oktober als zwölf Euro pro Arbeitsstunde – entsprechen, auch gelten gesetzliche Urlaubsansprüche. Die erlaubte Höchst-Arbeitszeit einschließlich der Bereitschaftszeit liegt bei 48 Stunden pro Woche – entsprechend sei die Bezeichnung „24-Stunden-Pflege“ zwar „verbreitet, aber falsch“, wie die Verbraucherzentrale NRW, betont. Das bestätigte im Juni 2021 das Bundesarbeitsgericht, das überwiegend im Sinne einer Klägerin aus Bulgarien entschied. Der Arbeitsvertrag der Frau sah vor, dass sie wöchentlich 30 Stunden Dienst für eine Seniorin verrichtet, de facto war sie fast rund um die Uhr im Einsatz. Das Gericht erkannte der Klägerin Nachvergütungen zu.

Dass das Urteil die Praxis positiv verändert hätte, sieht Susanne Punsmann, Pflege-Expertin der Verbraucherzentrale NRW, nicht. Es gebe „leider keine Wendung zum Besseren“, vielmehr eine Zunahme von Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit, sagt sie. Pflegeforscher Isfort begründet das so: „Die Überprüfung bleibt ebenso problematisch wie die Sanktionierung“, zumal die Betreuungskräfte so gut wie nie ihr Recht durchzusetzen versuchten. „Das gibt ihre Situation gar nicht her.“

Bisher gibt es schlichtweg keine konsequente Pflegeagenda, sondern lediglich einen Reparaturbetrieb an kleineren Stellschrauben.
Michael Isfort, Professor für Pflegewissenschaft

Letztlich erwächst das Problem aus der Not vieler Familien, für die überlange Einsätze des Betreuungspersonals ja in der Regel kein bewusst erzeugter Rechtsbruch sind, sondern für die - trotz eines Anspruchs auf Pflegegeld (siehe Text „Rechtslage“ am Ende dieser Seite) - die Finanzierung einer ambulanten Rundum-Betreuung nur schwer mit der präzisen Einhaltung aller Normen zu vereinbaren ist. Dass sich das Problem verschärfen könnte, zeigen Studien, die eine wachsende Zahl pflegebedürftiger Menschen voraussagen.

Isfort mahnt daher an, die Politik müsse Pflege insgesamt für die Menschen finanzierbarer machen. „Bisher gibt es schlichtweg keine konsequente Pflegeagenda, sondern lediglich einen Reparaturbetrieb an kleineren Stellschrauben“, sagt er. Was die Live-ins angeht, kritisiert er, dass deren Beschäftigung nicht als Sachleistung in der Pflegeversicherung abgerechnet werden kann (siehe Text „Rechtslage“ am Ende dieser Seite). Auch Punsmann von der Verbraucherzentrale sagt: „Es wäre hilfreich, die 24-Stunden-Betreuung als Leistung ins System der pflegerischen Versorgung zu integrieren und im Pflegeversicherungsgesetz eine entsprechende Leistung zu verankern.“

Der Deutsche Caritasverband erklärte vor wenigen Tagen, es sollten Mittel aus der Pflegeversicherung fließen, sobald legale Beschäftigungsverhältnisse nachgewiesen und Qualifizierungsstandards erfüllt seien. Ungeachtet dessen sei „der Ausbau weiterer Versorgungsangebote unerlässlich“. BdB-Geschäftsführer Eisenreich fordert von der Politik, die Bezahlbarkeit der Angebote ambulanter Pflege- und Betreuungsdienste dadurch zu erleichtern, dass die Sachleistungsbudgets in der Pflegeversicherung erhöht werden.       Aktuell liegt der monatliche Basisbeitrag in der sozialen Pflegeversicherung für Eltern bei 3,05 Prozent des Bruttogehalts, Kinderlose zahlen 3,4 Prozent.

Und was sagt die Politik? Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher der Union im Bundestag, drängt auf Tempo. „Die Ampel sollte ihren Koalitionsvertrag endlich in die Tat umsetzen. Die Unklarheit für Patienten und Angehörige, aber auch für viele Dienstleister und Pflegekräfte ist nicht hinnehmbar“, sagt Sorge der Rundschau. Nötig sei zunächst ein exakter Überblick über die Anzahl und den Hintergrund der ausländischen Betreuungskräfte. „Das Bundesgesundheitsministerium“, so Sorge, „muss gemeinsam mit den Ländern dafür sorgen, dass es eine klare Datenbasis gibt.“ Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will die Äußerung Sorges nicht kommentieren – auch nicht vor dem Hintergrund, dass sein Ressort bis Ende 2021 acht Jahre lang CDU-geführt war. Eine Sprecherin verweist nur knapp darauf, dass aufgrund der Komplexität des Themas mehrere weitere Ressorts involviert seien, darunter das Arbeits-, das Finanz- und das Familienministerium.

Das klingt nach viel Zeit – die etliche Betroffene nicht haben. „Das Vorhaben des Koalitionsvertrages muss jetzt dringend umgesetzt werden, denn gute Betreuung ohne ein Minimum an guten Regelungen gibt es nicht“, sagt Verbraucherschützerin Punsmann. Der Caritasverband hat derweil schon mal einen Vorschlag, der sich wohl schnell umsetzen ließe: „Ein erster Schritt“, so die Organisation, „wäre, die irreführende Bezeichnung 24-Stunden-Betreuung bzw. -Pflege zu vermeiden und entsprechende Werbung zu verbieten.“


Die Rechtslage

Was dürfen die Betreuungshilfen?

Die Verbraucherzentrale NRW weist darauf hin, dass die Bezeichnung „Pflege“ bei den ausländischen Fachkräften missverständlich sei, sie würden korrekt als „ausländische Haushalts- und Betreuungskräfte“ bezeichnet. Neben üblichen Tätigkeiten im Haushalt oder der Begleitung etwa bei Einkäufen dürften sie grundpflegerische Tätigkeiten (etwa Hilfen beim Duschen) übernehmen, nicht aber eine medizinische Behandlungspflege (etwa Verbandswechsel).

Welche Kosten entstehen bei Einsatz einer Betreuungshilfe?

Die Kosten für den Einsatz einer ausländischen Hilfe liegen laut Verbraucherzentrale bei 2200 bis 3000 Euro pro Monat (Vollzeit). Darin sind Steuern und Sozialabgaben im Ausland, die durch den dortigen Arbeitgeber entrichtet werden, abgedeckt. Hinzu kommt die Gebühr für die deutsche Vermittlungsagentur (50 bis 100 Euro im Monat). Die Betreuungshilfe erhält meist deutlich unter 2000 Euro netto. Neben einem Engagement über einen Arbeitgeber im Ausland ist auch eine Direkt-Anstellung möglich. Dann müssen Pflegebedürftige oder Angehörige selbst Steuern und Abgaben entrichten.

Wie hoch sind Pflegegeld und Pflegesachleistung?

Die Pflegeversicherung übernimmt Kosten für eine stationäre Pflege und für einen ambulanten Pflege- oder Betreuungsdienst. Sie zahlt Sachleistungen, die monatlich zwischen 724 Euro (Pflegegrad 2) und 2095 Euro (Grad 5) liegen. Ein Pflegegeld zahlt die Pflegekasse dagegen, wenn Angehörige oder eine ausländische Betreuungshilfe im Einsatz sind. Es liegt zwischen 316 Euro (Grad 2) und 901 Euro (Grad 5). Sachleistung oder Pflegegeld werden etwa auch bei der Tages-/Nacht- oder der Kurzzeitpflege gezahlt, einen Überblick liefern etwa die Verbraucherzentralen. (hs)

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