PsychologeDie Jungen verhalten sich in der Krise normal, aber unvernünftig

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Feiern, bis die Polizei kommt: Viele Ju­gend­li­che testen im eng gezurrten Co­rona-​Re­gel­korsett Grenzen aus.

  • Wenn ein junger Mensch trotz Corona eine Party feiern will, ist das jugendlicher Trotz, meint der Psychologe Gerd Höhner.
  • Und es ist nichts, was andere Generationen nicht auch gemacht hätten.
  • Die Jungen kriegen zudem seit Jahren gepredigt, dass jeder für sich selbst sorgen muss.

Düssldorf – Kürzlich sagte eine junge Frau im „Heute Journal“, wie sehr sie das Feiern vermisst. Ihr Statement löste einen Shitstorm im Netz aus. Doch ist dieser Wunsch wirklich so verwerflich? Der Psychologe und Präsident der Psychotherapeutenkammer in NRW, Gerd Höhner, meint, die jungen Erwachsenen verhielten sich eigentlich genau so wie wir alle.

Herr Höhner, junge Menschen gelten in der Pandemie oft als ignorant und egoistisch. Sind sie das wirklich?

Gerd Höhner: Wenn ein junger Mensch trotz Corona eine Party feiern will, ist das jugendlicher Trotz. Das ist nichts Unnormales. Und es ist nichts, was andere Generationen nicht auch gemacht hätten. Früher haben die Jugendlichen Rock ’n’ Roll getanzt, und die armen Eltern dachten, das Abendland geht unter. Heute machen sie Party und knutschen – und plötzlich sind 60 Leute infiziert. Das machen junge Leute, die sind so gesehen unvernünftig.

Warum ist das so?

Gerd Höhner: Die jungen Leute bekommen signalisiert: Euch trifft es kaum, an Corona sterben können nur die Älteren. Das mag falsch sein, ist aber in den Köpfen erstmal so drin. Und gibt Sicherheit.

Mit dem Thema Sterben beschäftigt man sich als 20-Jähriger auch eher nicht…

Gerd Höhner: Warum auch? Wenn ein 20-Jähriger sich mit dem Tod befasst, steht er seinen aktuellen Lebensaufgaben ja ziemlich entkräftet gegenüber. Es geht um Berufsausbildung, Freundschaften, Verselbstständigung, Familie. Da kann ich den Sterbegedanken nicht brauchen. Das ist eine ganz normale Haltung.

Aber geht es nicht auch um Rücksichtnahme und Solidarität?

Gerd Höhner: Die Jungen sollen Rücksicht nehmen auf die Alten, sie kriegen aber seit Jahren gepredigt, dass jeder für sich selbst sorgen muss. Nehmen wir die Diskussion um die Renten- und die Krankenversicherung: Das geht alles in die Richtung: Sorgt bitte für euch selbst!

Und jetzt wird ihnen vorgeworfen: Ihr seid nicht solidarisch. Wir fordern etwas ein, was wir seit 30 Jahren nicht gehört haben, nämlich dass wir Verantwortung für andere Menschen tragen. Die öffentliche Philosophie war zu lange: Solidarität kostet uns zu viel Geld, jeder muss für sich selbst sorgen.

Wir sind als Gesellschaft also selbst schuld?

Gerd Höhner: Was den beklagten Egoismus betrifft, ja. Die Jugend zeigt uns auf, was wir aus unserer Aufgabe der Solidarität gemacht haben. Wir haben sie auch ein Stück weit korrumpiert. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Rente: Der Staat kann nicht für jeden da sein, so die Botschaft. Jugendliche verha lten sich also, wie wir alle uns verhalten.

Vor sechs Monaten wurde applaudiert für die Pflegekräfte. Die gleichen Leute rümpfen jetzt die Nase, wenn bei den Tarifverhandlungen für die Pflegekräfte mehr Geld gefordert wird. Die müssten doch eigentlich sagen: Jawoll, da muss die öffentliche Hand jetzt mal tiefer in die Tasche greifen.

Oder die jungen Klimaaktivisten unterstützen…

Gerd Höhner: Eben. Vielen Älteren ist der Klimawandel egal. Die wollen nach Venedig.

Wie könnte man die Jugendlichen denn erreichen? Über die Vernunft?

Gerd Höhner: Appelle an die Vernunft sind meist wirkungslos. An die Vernunft appellieren wir auch bei Leuten, die übergewichtig sind oder zu schnell Auto fahren. Kurzfristig helfen können Disziplin-Aufrufe oder auch Angst-Szenarien – aber das wirkt nicht lang. Man kann sich nicht ständig mit der Angst beschäftigen, da werden wir krank.

Was kann dann helfen?

Gerd Höhner: Meiner Meinung nach muss die Politik den Menschen offen sagen: Die von euch gewünschte Sicherheit gibt es im Moment nicht. Politiker sollten öffentlich vertreten, dass wir in einer schwierigen und riskanten Situation sind und es keine Allheilmittel gibt.

Selbst ob ein Impfstoff wirkt, den es vielleicht in neun Monaten gibt, wissen wir doch nicht. Man darf nicht signalisieren: Das wird schon alles. Man muss den jungen Leuten klarmachen, dass sie – ob sie wollen oder nicht – Verantwortung haben und sich überlegen müssen, wie sie mit dieser Herausforderung umgehen.

Kann die Trotzhaltung auch daher rühren, dass die lange Zeit des Verzichts uns alle zermürbt?

Gerd Höhner: Es wäre psychologisch überraschend, wenn jemand sagen würde: Wir haben das jetzt acht Monate durchgehalten, wir halten das jetzt noch ein Jahr durch. Das soziale Kontaktverhalten gehört zu unserer Natur. Wenn dieses Bedürfnis derart ausgetrocknet wird, muss man sich nicht wundern, dass das nur begrenzt auszuhalten ist. Der Zwiespalt zwischen Vernunft und Trotz wird bleiben. Wir vermissen die Möglichkeit, ins Kino oder ins Restaurant zu gehen. Warum sollen junge Menschen nicht ihre Partys vermissen?

Eins noch: Warum kaufen Menschen jetzt wieder zu viel Toilettenpapier?

Gerd Höhner: Einkaufen gibt uns das Gefühl, etwas zu tun: Ich bin handlungsfähig. Unser Problem ist: Wir haben nicht gelernt, mit dem Thema der Wahrscheinlichkeit zu leben. Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Unfalls steigt mit der Geschwindigkeit, mit der wir fahren. Das wissen wir alle, haben das aber in unserem Denken nicht parat. Wir fahren trotzdem zu schnell.

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Wir können uns in dieser Krise nur so verhalten, dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, selbst infiziert zu werd en oder andere zu infizieren – ohne zu wissen, welche Maßnahmen im Einzelnen in welchem Ausmaß wirksam sind. Das ist eine ständige Enttäuschung unseres Bedürfnisses nach Sicherheit. Das erzeugt Unruhe und Ängste, Gefühle also, die wir nicht haben wollen und gegen die wir dann „unvernünftig“ sind.

Claudia Hauser führte das ­Gespräch.

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