Nicht für alle ein Wundermittel: Die Abnehmspritze verspricht einen großen Gewichtsverlust und mehr Lebensqualität. Experten verraten, für wen sie wirklich geeignet ist – und wann sie zur Gefahr wird.
SelbsttestFür wen ist die Abnehmspritze überhaupt geeignet?

Ein Mann hält eine Spritze mit dem Wirkstoff Semaglutid in der Hand. (gestellte Szene)
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Ich habe Glück: Körperliche Erkrankungen, die gegen die Abnehmspritze sprechen, habe ich nicht. Seit mehr als sieben Wochen nutze ich Wegovy und habe die meiste Zeit keine Nebenwirkungen – auch das ist ein großes Glück und nicht selbstverständlich. Ich vergesse oft sogar, dass ich das Medikament überhaupt nehme. Der fehlende Appetit auf Süßes ist für mich schon Alltag geworden – wie die plötzliche große Lust auf frisches Gemüse. Doch seit ich mich mit dem Thema beschäftige, führe ich immer wieder Gespräche mit oder über Menschen, denen es mit der Abnehmspritze anders geht. Deshalb dreht sich die aktuelle Folge meiner Selbsttest-Serie darum, für wen die Abnehmspritze überhaupt geeignet ist.
Wann dürfen Ärzte die Abnehmspritze verschreiben?
Die Abnehmspritze ist kein Alltagshelfer für alle, die „mal eben“ ein paar Kilo verlieren wollen. Der Diabetologe Dr. Markus Rohe aus Leer und die Hausärztin Dr. Friederike Nogat-Steckstor aus Wiesmoor halten sich an die Vorgaben: Die Abnehmspritze kommt vor allem für Menschen infrage, die unter starkem Übergewicht (Adipositas) leiden – also ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 oder ab 27, wenn bereits Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes bestehen. Entscheidend ist, dass andere Maßnahmen wie Ernährungsumstellung und Bewegung ausgeschöpft wurden und das Übergewicht die Lebensqualität oder Gesundheit ernsthaft beeinträchtigt. Doch wie ist es mit anderen Krankheiten jenseits des Übergewichts? Wann hilft die Spritze – und wann sollte man lieber die Finger davon lassen?
Wer profitiert von der Abnehmspritze und wann ist sie sinnvoll?
„Wir prüfen immer individuell, ob die Spritze wirklich notwendig ist“, betont Dr. Nogat-Steckstor. Auch bei Übergewicht gilt für sie: Wer mit seinem Gewicht und seiner Gesundheit zufrieden ist, hat keinen Grund, die Spritze zu nutzen. Für alle anderen gilt: Sie ist ein Werkzeug, kein Wundermittel. Im Durchschnitt verlieren Patienten mit dem Wirkstoff Semaglutid (Wegovy und Ozempic) rund 13,7 Prozent und mit Tirzepatid (Mounjaro) sogar 20,2 Prozent ihres Körpergewichts. Menschen mit Typ-2-Diabetes und Übergewicht profitieren von der Abnehmspritze sogar doppelt: Denn sie senkt nicht nur das Gewicht, sondern auch den Blutzuckerspiegel. Mounjaro und Ozempic sind deshalb für die Behandlung von Typ-2-Diabetes zugelassen.
Nebenwirkungen – Nicht für alle ein Wundermittel
So vielversprechend die Abnehmspritze ist: Es gibt keine Abnehmgarantie. Wenn aus gesundheitlichen Gründen nichts gegen das Medikament spricht, heißt das nicht, dass der Erfolg garantiert ist. Dr. Markus Rohe schätzt, dass etwa zehn Prozent der Patienten die Spritze wegen starker Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen oder anhaltendem Unwohlsein nicht vertragen und die Behandlung abbrechen müssen. Zudem wirkt die Abnehmspritze nicht bei allen gleich gut. Der Gewichtsverlust kann hoch ausfallen oder gering.
Was ist, wenn die Abnehmspritze nicht wirkt?
Es gibt die sogenannten Non-Responder: Das sind Menschen, bei denen trotz korrekter Anwendung kein nennenswerter Gewichtsverlust eintritt. Wie viele es sind, dafür gibt es keine belastbaren Zahlen. Die Ursache für die fehlende Wirkung ist noch nicht geklärt – vermutet werden individuelle Unterschiede im Stoffwechsel, in der Hormon-Empfindlichkeit oder in der genetischen Veranlagung. Die gute Nachricht: Wer auf den Wirkstoff Semaglutid in Wegovy und Ozempic nicht anspricht oder ihn nicht verträgt, kann mit dem Wirkstoff Tirzepatid in Mounjaro trotzdem Erfolg haben – oder andersherum. Das zeigt, wie individuell die Wirkung der Abnehmspritzen ist – und wie wichtig die enge ärztliche Begleitung ist.
Dürfen Ärzte die Abnehmspritze bei Typ-1-Diabetes verschreiben?
Erste Studien zeigen, dass die Abnehmspritze auch bei Menschen mit Typ-1-Diabetes und Übergewicht zu einer deutlichen Gewichtsabnahme und einem geringeren Insulinbedarf führen kann. Doch bisher sind diese Medikamente für Typ-1-Diabetes in Deutschland nicht zugelassen. Die Anwendung erfolgt – wenn überhaupt – „off label“ unter strenger ärztlicher Kontrolle. Grund dafür ist, dass durch die Abnehmspritze das Risiko für Unterzuckerung steigt, heißt es auf dem Informationsportal diabinfo.de. Off-label-Anwendungen sind rechtlich möglich, liegen aber in der Verantwortung des behandelnden Arztes.
Welche körperlichen Erkrankungen sprechen gegen die Abnehmspritze?
Die Abnehmspritze ist nicht für jeden geeignet. Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa, stark eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion, einer Bauchspeicheldrüsenentzündung, schweren Herz- oder Krebserkrankungen sowie Gallensteinen sollten sie nicht nutzen. Auch in der Schwangerschaft und Stillzeit ist die Spritze tabu. „Wir prüfen immer individuell, ob es medizinische Gründe gegen die Spritze gibt“, sagt Dr. Friederike Nogat-Steckstor. Zusätzlich gilt: Wer die Spritze nicht verträgt oder starke Nebenwirkungen hat, sollte sie nicht weiter nehmen.
Was ist mit Wechselwirkungen und Operationen?
Wie bei jedem Medikament gibt es bei der Abnehmspritze Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Welche das sind, ist im Beipackzettel aufgeführt – und ein wichtiges Thema für das Gespräch mit dem behandelnden Arzt. Zum Beispiel kann Cortison die Wirkung der Abnehmspritze mindern. Eine Herausforderung ist auch die durch das Medikament verzögerte Magen-Entleerung. Was ich esse, bleibt viel länger im Körper. Dadurch passt zum Beispiel der Richtwert für nüchtern auszuführende Operationen nicht mehr. Üblicherweise darf man vor einer geplanten Operation sechs bis acht Stunden nichts essen. Doch mit der Abnehmspritze könnte das nicht ausreichen und die Operation gefährlich werden. Deshalb die Abnehmspritze spätestens eine Woche vor der Operation absetzen – und die behandelnden Ärzte darauf hinweisen. Das empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI).
Kann die Abnehmspritze die Psyche belasten?
Auch die Psyche kann reagieren. Manche Menschen erleben Stimmungsschwankungen, Wehmut oder sogar depressive Verstimmungen. Zum Beispiel, wenn der große Gewichtsverlust alte Unsicherheiten oder neue Fragen zum eigenen Körpergefühl aufwirft. Auch das veränderte Essverhalten kann verunsichern: Plötzlich ist das ständige Verlangen nach Essen weg, was für viele erst einmal ungewohnt oder sogar „gruselig“ ist. Diese Erfahrung schildern auch Dr. Friederike Nogat-Steckstor und Dr. Markus Rohe: Einige Patienten empfinden die neue Ruhe im Kopf und das veränderte Verhältnis zum Essen zunächst als irritierend oder befremdlich.
Welche psychischen Erkrankungen sprechen gegen die Abnehmspritze?
Wer schon vorher mit Ängsten oder Depressionen zu kämpfen hatte, sollte die Spritze nur in enger Absprache mit dem Arzt nutzen. „Gerade bei psychischen Vorerkrankungen prüfe ich sehr genau, ob die Spritze wirklich geeignet ist“, sagt Dr. Friederike Nogat-Steckstor. Bei bestimmten schweren psychischen Erkrankungen, etwa Borderline oder schweren Depressionen, raten die Ärzte davon ab. Denn am Ende zählt nicht nur die Zahl auf der Waage, sondern das gesamte Wohlbefinden. Wenn Depressionen aber vor allem durch das Übergewicht und Mobbing-Erfahrungen ausgelöst wurden, spricht aus ärztlicher Sicht nichts gegen die Abnehmspritze. Dann kann sie ein Ausweg aus dem seelischen Tief sein.
Blick in die Zukunft – Die Abnehmspritze und Süchte
Dr. Markus Rohe blickt gespannt auf die nächsten Entwicklungen rund um die Abnehmspritze. „Im Moment ist total viel in Bewegung“, sagt er. Besonders spannend findet er, dass die Wirkstoffe auch das Verlangen nach anderen „Belohnungen“ im Gehirn beeinflussen können. Erste Studien deuten darauf hin, dass GLP-1-Analoga wie Semaglutid oder Tirzepatid das Suchtverhalten dämpfen – zum Beispiel das Verlangen nach Alkohol, Nikotin oder sogar Glücksspiel. „Es gibt Hinweise, dass die Spritze nicht nur das ständige Nachdenken über Essen leiser macht, sondern auch andere Süchte abschwächen kann“, so Rohe. Noch ist das Zukunftsmusik. Aber die Hoffnung ist groß, dass die Abnehmspritze in Zukunft auch Menschen mit Suchterkrankungen helfen könnte.
