Eine Studie zeigt: Aufschieberitis gibt es auch bei schönen Dingen. Dr. Magnus Heier erklärt, warum Prokrastinieren ein Teufelskreis ist.
Bewusstes HinauszögernWarum Menschen auch bei schönen Dingen prokrastinieren

Das Prokrastinieren gibt es auch bei schönen Dingen, zum Beispiel dem Kontaktieren einer lange nicht gesehenen Freundin.
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Die Coronapandemie war eine schreckliche Zeit. Vor allem für die Alten und die Jungen. Für die Alten brachen viele Aktivitäten und Kontakte weg. Für die Jungen fehlten Schule, Kindergarten und Freunde. Irgendwann wurde der Lockdown schrittweise wieder aufgehoben. Logisch wäre gewesen, am ersten Tag die neue Freiheit zu nutzen – zum Essengehen, für den Fitnessclub oder viele Treffen. Für all das, was in den Monaten zuvor schmerzlich vermisst wurde: raus, nur raus! Aber so war es oft nicht.
Dinge werden aufgeschoben, das ist lange bekannt. Aber bisher war man stillschweigend davon ausgegangen, dass sich das sogenannte „Prokrastinieren“ nur auf unangenehme Dinge bezieht – auf Rechnungen, gefürchtete Gespräche, Aufräumen, den Zahnarzt. Ist es denkbar, dass Menschen auch positive, eigentlich ersehnte Ereignisse vor sich her schieben? Dass sie besondere Momente verzögern? Logisch wäre es nicht, und doch scheint es genau so zu sein. Mehr noch, je länger ein besonderer Moment aufgeschoben wird, je wahrscheinlicher ist es, dass er noch viel länger hinausgezögert werden wird. Das zumindest ist das Ergebnis einer überraschenden Studie („Lost time undermines return behavior“, PNAS Nexus).
Lieber aufräumen, statt den lange nicht kontaktierten Freund anzutexten
Zunächst ergab eine Befragung, dass viele der Probanden nach dem Corona-Lockdown nicht sofort wieder ihre alten Aktivitäten, Hobbys, Kontakte aufnahmen. Dass besondere Ereignisse verschoben wurden, irgendwie um einen besonderen Moment abzuwarten. Dann versuchten Forscherinnen und Forscher genau dieses Verhalten zu testen. So hatten sich Probanden Zeit genommen und wurden überraschend vor die Wahl gestellt, diese Zeit zu nutzen, um einen lange nicht kontaktierten Freund oder Freundin anzutexten – oder eine Art sortierende Fleißarbeit zu machen, irgendetwas offensichtlich Langweiliges.
Überraschend viele der Probanden entschieden sich für die Langeweile und gegen den überfälligen Kontakt. Und zwar nicht, weil sie diesem Kontakt irgendwie ausweichen wollten, sondern weil sie dafür auf einen besonderen Moment warten wollten. Überraschend war, dass diese Neigung, etwas wirklich Angenehmes aufzuschieben, umso größer wurde, je länger der Kontakt schon aufgeschoben worden war. Das Aufschieben wird – bei schönen wie auch bei unangenehmen Dingen – zu einem Teufelskreis. Die Rechnung bleibt immer länger liegen, der Kontakt zu dem vermissten Freund aber auch.
Ein merkwürdiges Phänomen. Zumal man aus eigener Erfahrung weiß, dass Probleme (Rechnung) sich nicht von alleine lösen. Und dass besondere Momente (Freunde) nicht noch schöner werden, wenn man sie lange aufschiebt. Im Gegenteil: Die lange für einen besonderen Anlass aufgehobene teure Flasche Wein schmeckt am Ende weniger berauschend als erwartet. Und der besondere Anlass kommt auch ohne den Wein aus. Stattdessen: Jeder Tag kann ein besonderer sein, jeder Tag ist es wert, gute Freunde endlich anzurufen – oder eine gute Flasche Wein zu öffnen.