„Weggucken ist falsch“Alkoholmissbrauch ist präsent und wird trotzdem oft verleugnet

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Aus einem Schnaps können schnell mehrere werden. Wann ist es zu viel? 

Köln – Vermutlich ist das Problem in der Pandemie nicht kleiner geworden: Etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland gelten als alkoholabhängig. Drei von vier sind Männer. Allerdings funktioniert gerade bei Alkoholabhängigen das Verleugnen so gut, dass die meisten sich nicht als alkoholkrank bezeichnen würden. Viele sind sich ihres Problems nicht einmal bewusst.

Viele Patienten weisen Abhängigkeit weit von sich

Es passiert häufig, dass der Patient zwar seinen Alkoholkonsum präzise schildert, seine Symptome ehrlich benennt – dass er oder sie aber eine Abhängigkeit sehr weit von sich weist. Und das gilt oft auch für seine Familie: Es gebe kein Problem, heißt es dann oft, auch wenn das Problem ganz offensichtlich ist. Alkoholismus ist die häufigste Suchtkrankheit, gleichzeitig wohl auch die am meisten verleugnete Krankheit überhaupt. Damit ist auch klar, dass die Betroffenen aus diesem Grund kaum zu ihrem Hausarzt gehen werden.

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Dr. Magnus Heier ist Neurologe und Autor.

Gerade deshalb irritiert das Ergebnis einer aktuellen US-amerikanischen Studie. Forscher aus St. Louis hatten herausgefunden, dass 80 Prozent der Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit in den vergangenen zwölf Monaten einen Arzt aufgesucht hatten: im Krankenhaus, in der Praxis, wo auch immer. Wichtig dabei: Die Patienten waren nicht wegen ihres Alkoholproblems zum Arzt gegangen, sondern aus anderen, unterschiedlichsten Gründen. Allerdings ist genau so ein zufälliger Arztbesuch natürlich die einmalige Chance, das Problem Alkohol anzusprechen und anzugehen. Aber genau das passiert offenbar allzu selten. Ungefähr 70 Prozent der Patienten mit Alkoholabhängigkeit seien vom Arzt überhaupt auf das Thema Alkohol angesprochen worden. Und nur mit einem von zehn Patienten hat man schließlich ein Gespräch über Alkoholismus geführt.

Ein Alkoholiker ist nicht Schuld an seiner Erkrankung

Alkoholmissbrauch hat wenig mit persönlichem Versagen aber viel mit den sozialen Verhältnissen, mit Genetik und familiärer Prägung, mit Stress, Depression oder Angststörungen zu tun. Ein Alkoholiker ist nicht Schuld an seiner Erkrankung. Aber er oder sie ist krank! Alkoholismus kann nicht nur die Leber schädigen, sondern auch das Gehirn. Er kann Unfälle verursachen, das Herz schädigen, Beziehungen zerstören. Und Alkohol soll, nach einer aktuellen Studie, für etwa vier Prozent aller Krebsfälle verantwortlich sein.

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All das sollten ausreichende Gründe sein, die Hemmung zu überwinden, und einen Alkoholabhängigen auf seine Krankheit anzusprechen – als Arzt, als Freund, als Familie. Auch wenn solche Gespräche äußerst unangenehm werden können, sind sie doch die einzige Chance, aus dem Suchtkreislauf mit ärztlicher, pharmazeutischer und psychologischer Hilfe auszubrechen. Nicht zu viel Zeit zu verlieren, ist nicht nur wegen der möglichen Folgekrankheiten wichtig, sondern auch wegen der Chancen: Wenn der Kranke in einer frühen Phase der Krankheit noch in seine Familie, in den Freundeskreis und den Beruf integriert ist, sind die Erfolgschancen am größten. Wegzugucken, um den Betroffenen zu schonen oder zu schützen ist der falsche Weg

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