PipiphobieSchüchterne Blase ist ein Problem

Die Phobie namens „Paruresis“ macht die Situation vor dem Becken für rund eine Million deutscher Männer kompliziert. (Symbolbild: dpa)
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Männer haben es einfach beim Pinkeln. Wenn Sie müssen, können Sie überall. Ob im Fußballstadion, auf Konzerten oder in überfüllten Kneipen. Während das Frauenklo ständig besetzt ist, und die Damen nervige Wartezeiten in Kauf nehmen müssen, stellen sich die Männer einfach ans Pissoir und lassen laufen. Beneidenswert diese Stehpinkler, werden viele Frauen denken.
Eine weit verbreitete Phobie namens „Paruresis“ macht die Situation vor dem Becken für rund eine Million deutscher Männer aber doch viel komplizierter und unangenehmer, als es von außen erscheint. „Paruresis“ wird von Psychologen auch das „Syndrom der schüchternen Blase“ genannt. Betroffene Männer können nicht in Gesellschaft pinkeln, viele verspüren einen großen Leidensdruck. Nach einer repräsentativen Studie des Kölner Psychotherapeuten Dr. Philipp Hammelstein leiden 2,8 Prozent des starken Geschlechts an ihrer schüchternen Blase.
Selbsthilfegruppe gegründet
Thilo Linde aus Köln (Name v.d. Red. geändert) kann verstehen, wenn andere über seine Phobie schmunzeln. Die Qual mit dem Strahl ist für ihn aber sehr oft schmerzhaft: „Ich erinnere mich an einen Betriebsausflug mit einer Planwagenfahrt. Es gab ein Fässchen Kölsch, das munter geleert wurde. An einer günstigen Stelle sprangen alle Männer vom Wagen und befreiten sich am Straßenrand vom Druck. Nur ich konnte nicht. Solche Situationen sind peinlich und ärgerlich, weil der körperliche Schmerz bleibt.“ In der Fachzeitschrift „Psychologie Heute“ hat Thilo Linde dann zum ersten Mal den Namen „Paruresis“ gelesen (griechisch: par = gestört, uresis = urinieren). Dort erfuhr er auch von der Internetseite „paruresis.de“, einer Selbsthilfeseite von Betroffenen im Web.
Mit anderen Männern aus der Region gründete er eine Selbsthilfegruppe. Sie haben sich ab und zu getroffen und beschlossen die Krankheit anzugehen. „Ich habe erfahren, dass es ein sehr verbreitetes Phänomen und nicht so außergewöhnlich ist. Es gibt noch viele andere, und das ist tröstlich“, sagt Thilo Linde.
Sehr viele Männer kommen vereinzelt in die Situation, dass sie eine öffentliche Toilette unverrichteter Dinge verlassen müssen. Selbst Klobesucher, die sonst einen lässigen Umgang damit haben. „Bei immerhin 30 Prozent der Männer in Deutschland läuft ab und zu nichts, wenn sie vor dem Pissoir stehen“, so Philipp Hammelstein. Psychotherapeutisch behandelt werden von ihm aber nur Männer, denen es unmöglich ist, auf öffentlichen Toiletten Wasser zu lassen und die diese deshalb meiden. „So werden keine Kneipen, Restaurants oder Kinos mehr besucht“, weiß der Paruresis-Pionier. Er selber hat das Phänomen bei seiner Arbeit in der Psychiatrie Heidelberg kennen gelernt: „,Paruresis war bei einem Patienten eine Ursache seiner Depression. Er hat sogar seinen Arbeitsplatz nach der Entfernung zur eigenen Wohnung ausgesucht.“
Zahlreiche Patienten haben dem Psychotherapeuten seitdem erklärt, wie sehr sie das Pinkel-Problem im Alltag belastet. Er schildert eine typische Büro-Situation: „Weil man darauf sensibilisiert ist, merkt man früher, wann die Blase drückt. Man lauscht auf dem Flur. Geht gerade ein Kollege auf die Toilette? Wenn man dann am Becken steht, kommt ein Kollege rein. Man tut so, als ob man schon fertig ist, wäscht sich die Hände, setzt sich wieder an den Schreibtisch, wartet und lauscht wieder.“ So wird die „Paruresis“ zum ständigen Hintergrundrauschen im Kopf. Stimmung und Konzentration werden nachhaltig gestört. Manche Männer berichten auch, dass sie ihren gesamten Tagesablauf nach der „Paruresis“ ausrichten, um bloß nicht in die Verlegenheit zu kommen, dabei beobachtet zu werden, wie sie am Becken „versagen“. Das Gefühl des Versagens, oder des „Andersseins“ macht für viele Männer die Phobie so unerträglich. „Oft denke ich am Pissoir: Bin ich bescheuert oder was, warum kommt denn jetzt nichts“, sagt Thilo Linde.
Auslöser sind oft Schlüsselerlebnisse in der Pubertät. Zum Beispiel Situationen auf dem Schulklo, wo Mitschüler über die Toilettenwände steigen und so die Grenzen der Intimsphäre verletzen. Das kann beim nächsten Klobesuch zu einer Angstreaktion führen. Bei Stress macht die Blase dicht: „Die Ringmuskeln kontrahieren, sie bleiben angespannt und verschließen die Harnröhre.“ Die Schuld schiebt Hammelstein unseren Vorfahren in die Schuhe. Wenn das Mammut angerannt kam, war es für den Organismus nicht sinnvoll, erstmal genüsslich zu pinkeln. Heute braucht niemand auf einer öffentlichen Bahnhofstoilette mehr Angst vor wilden Tieren zu haben. „Vom Stresspegel gleicht die ,Paruresis aber trotzdem einer archaischen Kampf-Flucht-Situation“, so Hammelstein.
Eine natürliche Reaktion, trotzdem fühlt es sich für Betroffene wie Thilo Linde an, als ob er nicht richtig funktioniert, nicht normal ist. In der „Paruresis“-Therapie reflektiert Hammelstein über solche störenden Denkmuster, die die Angst befeuern. Entspannungsübungen können helfen. „Wer viele Jahre unter ,Paruresis leidet, hat sich aber antrainiert, dass die Situation auf dem Klo bedrohlich ist. Da hilft nur Umlernen.“ In einer Studie mit 60 Patienten zeigte er 2005, dass Konfrontationsübungen Erfolge erzielen. Die Männer gehen in Begleitung eines „Pee-Buddys“ (Pinkel-Kumpel) auf eine öffentliche Toilette. Der Pee-Buddy schüchtert weniger ein als ein Fremder: „Schließlich weiß er ja Bescheid und hat Verständnis, wenn es nicht klappt“, so Linde.
Heilung ist möglich
Das Ziel ist trotzdem irgendwann, ganz locker neben fremden Männern am Pissoir zu urinieren. Wenn Thilo Linde heute alleine auf ein öffentliches Klo muss, läuft's ziemlich schnell. Er bricht auch nicht mehr ab, wenn andere Männer, während er am Urinal steht, den Toiletten-Raum betreten. Aber einen Pinkel-Plausch mit dem Pissoir-Nachbarn halten? „Soweit werde ich beim besten Willen nicht kommen“, sagt er lachend. Er geht inzwischen entspannter mit seiner „Paruresis“ um und sieht auch die Vorteile: „Derzeit plant der Kölner Stadtdirektor Guido Kahlen einen neuen Bußgeldkatalog. Danach soll das Wildpinkeln bald 100 Euro anstatt bisher 35 kosten“. Thilo Linde hat davor keine Angst.