So können Eltern helfenZahl der Cybermobbingfälle steigt immer weiter an

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Cybermobbing

Die Zahl der Cybermobbingfälle wird seit Jahren mehr.

Köln – Aus dem Klassenchat entfernt, fiese Beleidigungen unter Tiktok-Posts oder private Fotos, die ungewollt vom Empfänger oder der Empfängerin bei Snapchat weiterverbreitet werden – Cybermobbing hat viele Formen. Laut einer aktuellen Studie des „Bündnisses gegen Cybermobbing“ sind mehr als 1,8 Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland (16,7 Prozent) davon betroffen. Und es werden seit Jahren mehr: Der Wert hatte nach Angaben des Bündnisses im Jahr 2017 noch bei 12,7 Prozent gelegen.

Das hat Folgen für Körper und Psyche: Betroffene klagen nicht nur über Kopf- oder Magenschmerzen, sondern können auch Angst- und Schlafstörungen entwickeln. Sie sind häufiger niedergeschlagen und von Depressionen geplagt. „Besonders erschreckend und alarmierend ist der Umstand, dass fast jeder vierte Betroffene (24 Prozent) Suizidgedanken äußerte“, heißt es in der aktuellen Studie des „Bündnisses gegen Cybermobbing“.

Große Scham: Betroffene vertrauen sich ihren Eltern nicht an

Wenn Kinder sich zurückziehen, nicht mehr so lebhaft sind wie vorher, immer wieder über Bauchschmerzen klagen oder nicht zur Schule gehen wollen, könnte das für Eltern ein Hinweis auf Mobbing und Cybermobbing sein. Das Problem: Oft schämen die betroffenen Kinder und Jugendlichen sich so sehr, dass sie sich nicht ihren Eltern anvertrauen wollen. Deshalb richten sich viele Interventionsangebote direkt an die Betroffenen: Die Erste-Hilfe-App bei Cybermobbing der Initiative Klicksafe, die „Nummer gegen Kummer“, der Krisenchat oder die Onlineberatung Juuuport können erste Anlaufstellen sein.

„Wir erhalten etwa zehn Anfragen pro Tag, der Großteil davon betrifft Cybermobbing“, sagt Lennart Hesse-Sörnsen von Juuuport. Die Ratsuchenden schreiben sich per Kontaktformular oder Whatsapp an Juuuport ihre Probleme von der Seele. „Meist schreiben sie uns, dass sie aus dem Klassenchat ausgeschlossen oder dort beleidigt werden, fiese Kommentare unter Instagram-Posts erhalten oder Fotos unschön bearbeitet und dann verbreitet werden“, sagt Hesse-Sörnsen.

Zudem betreiben auch schon jugendliche Mobber Identitätsdiebstahl und erstellen Fake-Profile, zum Beispiel auf Dating-Apps. Manche erschleichen sich auch private, potenziell bloßstellende Informationen oder intime Fotos von ihren Opfern, indem sie psychischen Druck aufbauen und sie erpressen. Diese verbreiten sie dann weiter – und schädigen den Ruf der betroffenen Person. Cybermobbing kann im schlimmsten Fall bis hin zu Gewalt- und Todesandrohungen im Netz führen. Weil Täterinnen und Täter die emotionale Reaktion ihrer Opfer nicht unmittelbar erleben, werden sie sich der Schwere und Folgen ihres Handelns nicht bewusst, vermuten Fachleute.

Cybermobbing ist nicht so anonym wie gedacht

Manche Täterinnen und Täter posten ihren Hass unter ihrem Klarnamen, andere nutzen Pseudonyme. „Das Dramatische daran ist, dass die Täterinnen und Täter meist nicht wirklich anonym sind, sondern die Betroffenen sie aus der Schule kennen“, sagt Hesse-Sörnsen. Kinder und Jugendliche wissen dann: Das Mobbing steht im Zusammenhang mit meiner Schule, aber wer genau dahintersteckt, das ist oft unklar. Das erschwert es Betroffenen auch, konkret nachzuweisen, wer sie im Netz angegriffen hat – und gezielt darauf zu reagieren.

Cybermobbing ist für Betroffene so schlimm, weil es omnipräsent ist. „Cybermobbing ersetzt das Schulhofmobbing nicht, sondern erweitert es noch“, sagt Hesse-Sörnsen. Auch nach der Schule sind Kinder und Jugendliche rund um die Uhr der Schikane ausgesetzt und können nicht abschalten. Hinzu kommt, dass die beleidigenden Inhalte oft lange im Netz stehenbleiben und kopiert oder weitergeleitet werden können. Eine Situation, die viele Betroffene als ausweglos empfinden.

„Mobbing ist ein Gruppenphänomen“

Welche Gründe es für Cybermobbing gibt, ist wissenschaftlich nicht eindeutig erforscht. Laut dem Entwicklungspsychologen und Mobbingforscher Herbert Scheithauer liegen Cybermobbing jedoch ähnliche Dynamiken zugrunde wie dem „klassischen“ Mobbing. „Mobbing ist ein Gruppenphänomen“, sagt er. Deshalb gebe es auch nicht den einen Grund, der Mobbing erkläre.

Gewisse Risikofaktoren seien aber schon nachweisbar: Kinder und Jugendliche, die schüchtern sind, weniger Freunde haben oder anders aussehen als andere, werden häufiger gemobbt. Ein geringes Selbstvertrauen erhöht nicht nur das Risiko, gemobbt zu werden, sondern auch dafür, andere aktiv zu mobben. Wer durch Eltern oder andere Familienmitglieder vorgelebt bekommt, Konflikte mit Gewalt zu lösen, zeigt häufiger aktiv mobbendes Verhalten. Auch mobben Jungen tendenziell häufiger als Mädchen. „Aber nicht alle, die gewisse Risikofaktoren aufweisen, handeln auch danach – und nicht bei allen, die mobben oder gemobbt werden, liegen diese Faktoren vor“, sagt Scheithauer.

Es gibt nicht bloß „den Täter“ und „das Opfer“

Scheithauer warnt außerdem vor dem Schwarz-Weiß-Denken im Sinne von „der Täter“ und „das Opfer“. Das helfe nicht weiter und sei zudem auch noch falsch. Erstens sind oft weit mehr Personen an Mobbing beteiligt als zunächst gedacht: So gibt es neben aktiv Mobbenden auch Mitläuferinnen, Assistenten, Verstärkerinnen, potenzielle Verteidiger oder Außenstehende, die zwar vom Mobbing etwas mitbekommen, aber nichts dagegen unternehmen.

Und zweitens können diese Rollen auch wechseln. Wer auf dem Schulhof gemobbt wird, schließt sich manchmal auch mit anderen zusammen und nutzt Cybermobbing als Mittel, um sich anonym zu rächen. Dass sie diese verschiedenen Rollen einnehmen, ist Kindern und Jugendlichen oft nicht bewusst. Um Mobbing und Cybermobbing zu bekämpfen, sind laut Scheithauer drei Dinge wichtig: Intervention wie bei Juuuport, der Dialog in Familien und Mobbingprävention an Schulen.

Handyverbote sind oft an die Falschen adressiert

Bei Juuuport erhalten die Betroffenen Antwort von anderen jungen Menschen. Diese sogenannten Scouts werden durch Psychologinnen und Medienpädagogen der Beratung geschult. „Sie kennen die Themen und Plattformen aus eigener Erfahrung und sind mehr oder weniger gleich alt wie die Ratsuchenden“, so Hesse-Sörnsen. Er sieht einen großen Vorteil im Austausch auf Augenhöhe. Denn Betroffene von Cybermobbing schämen sich oft und haben außerdem Angst, dass Eltern ihnen bei diesen Themen ohnehin nicht helfen könnten, weil sie keine Ahnung von Whatsapp, Tiktok und Co. haben. Darüber hinaus befürchten sie, dass ihnen die Schuld zugewiesen wird oder ihre Eltern ihnen das Handy wegnehmen. Solche Verbote lösen aber nicht die zugrundeliegenden Konflikte – und sind oft an die Falschen adressiert.

Die Autorin Leonie Lutz und Pädagogin Anika Osthoff sagen: Eltern sollten wissen, was ihre Kinder im Internet treiben, welche Spiele sie auf dem Smartphone spielen, in welchen sozialen Netzwerken ihre Teenager angemeldet sind und was sie dort konsumieren und produzieren. Absolutes No-Go: Den Kindern, vor allem Jugendlichen, heimlich hinterherschnüffeln oder ihre Nachrichten mitlesen.

Stattdessen empfehlen Lutz und Osthoff in ihrem Buch „Begleiten statt verbieten“ ein Familienritual: Einmal im Monat oder in einem anderen Zeitrahmen kommt die Familie zusammen, um sich ein Update in digitalen Medien zu geben. Eltern und Kinder zeigen dann einander neue Apps, spannende Social-Media-Accounts, drehen gemeinsam Videos oder spielen Spiele. Das schafft nicht nur Raum für Austausch, sondern ist auch eine Gelegenheit, um regelmäßig über gute Kommunikation, Chancen und Risiken im Netz zu sprechen und Grenzen zu formulieren: Wie lange und wofür sollten wir digitale Medien nutzen? Welche Regeln gelten im digitalen Raum und welche Rechte habe ich im Netz?

Herbert Scheithauer hält all diese Ideen für sinnvoll, sagt aber auch: Nicht alle Kinder und Jugendlichen haben Eltern, die so bemüht um das Wohlbefinden und die Medienkompetenz ihrer Kinder sind. Deshalb sieht er Schulen als zentralen Ort für Medienbildung und Prävention von Cybermobbing. In der Hinsicht passiere an Schulen noch zu wenig, obwohl digitale Medien eine riesige Rolle im Leben junger Menschen spielen. „Das ist, als würde ich rund um die Uhr Auto fahren, ohne je eine Fahrschule besucht zu haben.“

Was kann ich tun, wenn ich vermute, dass mein Kind gemobbt wird?

Interesse zeigen und ansprechbar sein: Häufig wenden Kinder sich nicht an ihre Eltern, wenn sie von Cybermobbing beziehungsweise Mobbing betroffen sind. Sie befürchten, Ärger oder Internetverbot zu bekommen, sind peinlich berührt und schämen sich oder denken, dass ihre Eltern sie sowieso nicht verstehen und die Plattformen nicht kennen. Bieten Sie sich immer wieder als Ansprechperson an und schaffen Sie Vertrauen zu Ihrem Kind.

Bleiben Sie auf dem Laufenden: Wie geht es Ihren Kindern in der Schule? Erkundigen Sie sich regelmäßig, aber möglichst beiläufig, wie das Sozialleben in der Schule klappt. Was machen Ihre Kinder in sozialen Netzwerken? Führen Sie zum Beispiel gemeinsame Medienrituale als Familie ein und lassen Sie sich die Apps erklären, die Ihre Kinder nutzen. Auch Bücher, Podcasts oder Newsletter und Infoabende von den Landesmedienanstalten oder dem Bündnis gegen Cybermobbing können helfen.

Lassen Sie Ihr Kind mit den Problemen nicht allein: Hat sich Ihr Kind Ihnen anvertraut, unterstützen Sie es, verbringen Sie Zeit mit ihm beziehungsweise sorgen Sie dafür, dass es vom sozialen Umfeld, von Freundinnen und Freunden unterstützt wird. Entscheiden Sie gemeinsam mit Ihrem Kind, ob und wann Schulsozialarbeiter, Lehrerinnen und Lehrer oder Eltern der mobbenden Kinder informiert werden. Stiften Sie Ihr Kind nicht zu Racheakten an, sondern überlegen Sie sich deeskalierende Strategien.

Dokumentieren Sie die Vorfälle: Machen Sie (bei Cybermobbing) Screenshots der Kommentare oder Beleidigungen und dokumentieren Sie möglichst genau, was wann und wo geschehen ist.

Wenden Sie sich an die Plattformbetreiber: Wenn Ihr Kind Cybermobbing erlebt, sollten Sie den Betreiber der Internetplattform informieren, über die Ihr Kind gemobbt wurde. Dieser ist dazu verpflichtet, die Verunglimpfungen aus seinem Angebot zu löschen. Bei Fragen oder Problemen können Sie sich an eine Beschwerdehotline wie zum Beispiel www.jugendschutz.net wenden.

Prüfen Sie rechtliche Schritte: In einigen Fällen ist Mobbing strafrechtlich relevant, zum Beispiel bei massiven Beleidigungen und Drohungen oder groben Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Erstatten Sie gegebenenfalls Anzeige gegen die Täter.

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