Ukraine-KriegPlant Russland historische Katastrophe am Kachowka-Damm?

Der Dnipro-Staudamm von Nowa Kachowka in Cherson (Ukraine).
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Köln – Wollen die russischen Truppen in der Südukraine eine „historische Katastrophe“ inszenieren? Das wirft der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ihnen vor. Sie hätten den Dnipro-Staudamm von Nowa Kachowka vermint und wollten ihn sprengen. Für die Minen gibt es zwar keine unabhängige Bestätigung, aber schon zuvor hatte das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) gewarnt, dass die Russen den Damm bei einem Teilrückzug aus dem ukrainischen Gebiet Cherson sprengen und damit schwere Überflutungen auslösen könnten. Droht ein solches Kriegsverbrechen in Nowa Kachowka?
Welche Bedeutung hat der Dnipro-Damm?
Das Dammbauwerk ist etwa 3,4 Kilometer lang und bis zu 38 Meter hoch. Es staut Europas (nach Wolga und Donau) drittgrößten Strom, den Dnipro, zu einem 240 Kilometer langen See mit 18,2 Milliarden Kubikmeter Wasserinhalt (das entspricht zwei Fünfteln des Wassers im Bodensee). Über den Damm verlaufen eine Straße und eine Bahnstrecke.Der See sichert die Wasserversorgung für Landwirte. Über einen Kanal wird auch die Krim versorgt. Sein Wasserkraftwerk leistet 300 Megawatt, so viel wie die Braunkohleblöcke Niederaußem E oder F. Der See liefert zudem Kühlwasser für das Kernkraftwerk Saporischschja – mit 6000 Megawatt das größte in Europa – und ein benachbartes Kohle- und Gaskraftwerk.
Was behauptet die russische Seite?
Die Befürchtungen, Russland könne den Damm sprengen, hat der russische Ukraine-Oberbefehlshaber Sergej Surowikin ausgelöst. Er behauptete, die Ukrainer wollten den Staudamm zerstören. Tatsächlich wäre das nicht in ihrem Interesse, und sie haben bisher auch nie den Damm beschossen, sondern nur die Brücke über eine Schiffsschleuse. Das ISW nimmt an, dass Russland eine Aktion unter falscher Flagge vorbereitet. Russland hat bereits in der Vergangenheit zwei ukrainische Staudämme bombardiert, am Siwerskyj Donez und am Inhulez.
Welche Folgen hätte eine Sprengung?
Nach Selenskyjs Angaben wären 80 Siedlungen und Hunderttausende Bewohner von einer Flutkatastrophe betroffen. Russische Blogger verbreiten ältere Darstellungen über die Folgen eines Dammbruchs. Sie sind bemerkenswert: Auf rechten, nordwestlichen Ufer, wo die Ukraine derzeit vorrückt, steigt das Gelände rasch an. Viele Siedlungen sind hochwassersicher. Schon die nur wenige Schritte vom Ufer entfernte Katharinenkathedrale in Cherson liegt 44 Meter über dem Fluss. Auf dem flachen Südostufer aber würden große Flächen überschwemmt – einschließlich der Cherson gegenüberliegenden Städte Oleschky und Hola Prystan mit zusammen 40 000 Einwohnern.
Militärischen Sinn hätte die Sprengung für Russland nur, wenn General Surowikin davon ausgehen sollte, dass man sich auch auf dem Südostufer weit zurückziehen muss. Dann könnte man mit der Zerstörung des Damms und einer Verwüstung der Flussniederung einem für Russland katastrophalen Szenario vorbeugen: Könnten die Ukrainer den Dnipro überqueren, dann wäre die Landenge von Perekop, der Übergang zur Krim, nahe. Eine zentrale russische Nachschublinie wäre in Gefahr.
Wie ist die Lage in Saporischschja?
Auf den ersten Blick ermutigende, auf den zweiten beunruhigende Aussagen machen ukrainische Medien und die ukrainische Atombehörde Enerhoatom: Russische Soldaten würden die neben dem Kraftwerk Saporischschja gelegene Stadt Enerhodar – nach Plünderungen – verlassen. Aber warum? Weder aus westlichen noch aus russischen Quellen gibt es Angaben über einen ukrainischen Vorstoß auf Enerhodar. Sollten sich die Darstellungen bestätigen, hieße das wohl, dass Russland die Hoffnung aufgegeben hätte, das Kraftwerk betreiben zu können.
Das würde zu einem Angriff auf den Damm passen. Ohne das Wasser des Stausees können die Reaktoren nicht wieder laufen. Und was, wenn man auch das Auslösen eines nuklearen Zwischenfalls überlegen sollte? Dann wäre es nur klug, die eigenen Leute abzuziehen.