Karnevalsfunktionär im Interview„Manche Leute haben wir verloren“

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Dieter Wittmann.

Dieter Wittmann ist Präsident des Re­gio­nal­ver­bands Rhein-Sieg-Ei­fel im Bund Deutscher Karneval.

Die aktuelle Situation im rheinischen Karneval bereitet Dieter Wittmann Sorgen. Seit mehr als 50 Jahren ist der Oberkasseler in verschiedensten Funktionen im Karneval unterwegs.

Halb leere Säle, wegen zu wenig verkaufter Eintrittskarten abgesagte Sitzungen, zögerliche Anmeldungen für die Umzüge – die aktuelle Situation im rheinischen Karneval bereitet Dieter Wittmann Sorgen. Seit mehr als 50 Jahren ist der Oberkasseler in verschiedensten Funktionen im Karneval unterwegs. Seine Funktionärskarriere führte ihn bis an die Spitze des Bundes Deutscher Karneval, dessen Vize-Präsident er von 2017 bis 2022 war. Eine derartige Tristesse hat er im Narren-Brauchtum noch nie erlebt. Über mögliche Folgen und erforderliche Gegenmaßnahmen sprach der Karnevalist mit Holger Willcke.

Wie erleben Sie die ersten Wochen in der neuen Session?

Dieter Wittmann: Sehr unterschiedlich. Dort, wo Menschen im Karneval zusammenkommen, ist die Stimmung unbeschwert und positiv. Wer im Saal angekommen ist, hat Spaß und erlebt Karneval wie in den Jahren vor der Pandemie. Die Leute, die aber erst gar nicht in den Saal gehen, die haben wir vorerst verloren.

Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für die Zurückhaltung der Menschen?

Es gibt nicht den einen Grund. Ältere Menschen sind nach wie vor ängstlich, große Veranstaltungen zu besuchen. Das gilt nicht nur für den Karneval, aber es betrifft leider auch den Karneval – massiv sogar. Jüngere Menschen haben sich in den vergangenen zwei Jahren umorientiert, haben nach anderen Unterhaltungsformaten gesucht und sie auch gefunden. Und ich treffe auch immer wieder Menschen, die mir sagen, dass sie in diesem Jahr an den fünf tollen Tagen lieber in Urlaub fahren.

War diese Entwicklung zu erwarten?

Eindeutig ja. Ich habe noch im vergangenen Jahr davor gewarnt, dass auf den Karneval schwere Zeiten zukommen werden. Aber das wollte niemand wirklich hören. Ich bin sogar davon überzeugt, wenn unser Brauchtum wegen der Pandemie ein drittes Jahr ausgefallen wäre, hätte das für viele Vereine das Aus bedeutet. Der Karneval hätte sich vielleicht sogar davon nie mehr richtig erholt.

Wirken sich auch die aktuellen Energie- und Finanzkrisen negativ auf den Karneval aus?

Natürlich. Das Leben ist durch die Energiekrise deutlich teurer geworden. Es gibt genug Karnevalsfreunde, die es sich derzeit einfach nicht leisten können, für den Besuch einer Karnevalssitzung mehr als 100 Euro pro Person zu bezahlen. Und diese Summe ist bei großen Sitzungen eher niedrig angesetzt, wenn man Eintrittsgeld, Fahrkosten, Essen und Trinken addiert.

Treffen diese Probleme auch auf den bundesweiten Karneval zu?

Das ist kein rheinisches Problem. Als Vorsitzender des Regionalverbands Rhein-Sieg-Eifel nehme ich diese Stimmung in allen unseren 365 Mitgliedsvereinen wahr. Aber auch in den BDK-Gremien werden diese Entwicklungen mit Sorge zur Kenntnis genommen und diskutiert.

Rechnen Sie für die Session 2024 wieder mit unbeschwerten Zeiten?

Nein. Vereine und Verbände werden an den Folgen noch längere Zeit zu knabbern haben. Das ist keine einmalige Erscheinung, sondern der Karneval befindet sich mittlerweile in einer strukturellen Krise.

Wie meinen Sie das?

Bereits seit einigen Jahren nehme ich kleinere Krisenherde wahr, die sich jetzt zusammen mit den Folgen von Corona und des Ukraine-Krieges zu einer Strukturkrise entwickelt haben.

Können Sie Beispiele nennen?

Nicht wenige junge Leute haben sich vom organisierten Karneval hin zum Partykarneval abgewendet. Den Vereinen laufen die für Veranstaltungen weg. Folge ist, dass kleinere Vereine keine Sitzungen mehr anbieten. Und auch das Verhältnis zwischen Musik, Rede und Tanz hat sich bei den meisten Sitzungen so verändert, dass der Partykarneval auch immer mehr bei den traditionellen Sitzungen Einzug hält. Der Begriff Sitzung ist mittlerweile nicht mehr zutreffend. Wenn ich eine Sitzung besuche, stehe ich mehr als ich sitze.

Und was ist Ihrer Meinung nach zu tun?

Der klassische Karneval muss sich dringend neu aufstellen und seine Angebote hinterfragen. Die Jugend will Party, der Mittelbau wünscht sich eine gesunde Mischung aus allem, und unsere älteren Gäste werden nur noch dann kommen, wenn ihnen eine traditionelle Sitzung mit Büttrednern, Corpsauftritten und Gardetanz präsentiert wird. Darauf müssen sich die Vereine besser einstellen und entsprechende Formate anbieten.

Ist die Tradition im Karneval gefährdet?

Eindeutig nein, aber wir müssen jetzt mehr auf unsere Gäste zugehen und auf ihre Wünsche reagieren. Auch die Präsentation von Tollitäten muss neu erfunden werden. Der Einmarsch auf die Bühnen und das damit verbundene Protokoll ist in die Jahre gekommen. Junge Menschen können damit nichts mehr anfangen. Prinzenpaare sind Symbolfiguren und das muss auch so bleiben, aber trotzdem kann man an den Auftritten etwas verändern, ohne die Tradition in Frage zu stellen.

Rechnen Sie bei den Karnevalsumzügen mit Besucherzahlen wie vor der Pandemie?

Davon bin ich sogar überzeugt. Die Menschen freuen sich auf den Straßenkarneval. Dort spielen Kosten und Ansteckungsgefahr auch keine besondere Rolle. Den Besuch der Umzüge kann sich jeder leisten.

Waren die Corona-Hilfen von Land und Bund hilfreich und ausreichend?

Ohne die finanzielle Unterstützung des Staates hätten viele Vereine aufgeben müssen. Leider sind nicht alle Hilfen in Anspruch genommen worden. Obwohl der BDK immer wieder auf die Corona-Gelder aufmerksam gemacht hat, sind nicht alle Gelder abgerufen worden.

Die jüngste Anhebung der Gema-Gebühren hat viele Veranstalter geärgert. Wie hat der BDK reagiert?

Auf allerhöchster Ebene wurden Gespräche zwischen BDK und Gema geführt. Die Rabatte für BDK-Mitglieder konnten dadurch gerettet werden. Dafür muss der BDK allerdings einige verwaltungstechnische Aufgaben von der Gema übernehmen.


Zur Person

Dieter Wittmann wurde 1948 in Oberkassel geboren und lebt heute immer noch dort. Von 1978 bis 2003 war er Präsident der KG Kaasseler Jonge, von 1990 bis 2015 war er Präsident des Festausschusses Siebengebirge, seit 2002 ist er Präsident des Regionalverbandes Rhein-Sieg-Eifel, von 2017 bis 2022 war er Vize-Präsident im Bund Deutscher Karneval (BDK).

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