Elena, Sergiy und ihr 14 Jahre alten Sohn haben in Wachtberg Fuß gefasst. Ihre Wohnung in der ukrainischen Großstadt Saporischschja haben sie verlassen, als dort täglich Granaten das Atomkraftwerk trafen.
Zukunftsplan DeutschlandEhepaar aus der Ukraine fasst in Wachtberg Fuß

Sergiy und Elena leben seit Monaten mit ihrem Sohn in Wachtberg. Sie besuchen oft den Treff für Ukrainer in Niederbachem.
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Elena (42) und Sergiy (46, großes Bild) sprechen bereits so gut Deutsch, dass sie ihre Geschichte von Krieg und Flucht selbst erzählen können. Seit Oktober ist die Familie aus Vater, Mutter und einem Sohn wieder zusammen. Beim Ukrainertreff im katholischen Pfarrheim in Niederbachem sprechen sie alle zwei Wochen mit Landleuten.
Die Stimmung ist gut, aber die Hoffnung in die alte Heimat zurückzukehren, schwindet. Dort war es der jungen Familie schon kurz nach Kriegsbeginn zu brenzlig geworden. In Saporischschja wohnte sie genau an dem Platz, auf dem vor Jahren spektakulär das Lenin-Denkmal zu Fall gebracht wurde. Aber in dieser Regionshauptstadt befindet sich auch ein Atomkraftwerk, das Ziel russischen Beschusses war. „Es sind nur 20 Kilometer bis zum Schlachtfeld. Unser Nachbarhaus hat einen Treffer bekommen und steht nicht mehr“, berichtet Sergiy. Er schickte zuallererst Frau und Sohn außer Landes. „Ich konnte aber nicht direkt mit.“
Ich wohne oder sterbe hier im Haus.
Seine Eltern und die Schwester wollten in der Heimat bleiben. Und auch die Mutter von Elena hatte eine deutliche Entscheidung getroffen: „Ich wohne oder sterbe hier im Haus.“ Zu groß sei die Hürde, in ein anderes Land mit einer fremden Sprache zu gehen.
So kam es, dass Elena und der Sohn über eine Bekannte aus Berkum eine Bleibe bei einer deutschen Familie in Ließem fanden. Das war Mitte März 2022. Inzwischen gibt es eine eigene Wohnung in Niederbachem, und die Erziehungsprobleme mit dem 14-Jährigen, der sich altersgemäß vom Vater am Telefon nichts sagen ließ (Sergij: „Das war für ihn wie Radio“, jede noch so erste Ansprache einfach vorbeigeplätschert), sind seit dessen Ankunft Mitte Oktober beigelegt.
Erstes Zeugnis mit Dreier-Schnitt
Der Junior besucht derzeit die achte Klasse an einem Gymnasium in Bad Godesberg und macht bei der Theater-AG mit. „Auf seinem ersten Zeugnis hat er einen Notendurchschnitt mit einer Drei vor dem Komma, und es ist keine Integrationsklasse“, betont die Mutter. Abitur will er machen. „Wenn er in seinem Zimmer ist, spielt er nicht am Handy oder am Computer, sondern lernt wirklich für die Schule“, berichtet der stolze Vater.
Der Erfolg kommt nicht ganz ohne Vorarbeit. Die Familie hatte bereits vor dem Krieg, überlegt, ob sie nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz ziehen sollte. Sergij begann 2018, beim Goethe-Institut Deutsch zu lernen, und auch der Sohn interessierte sich für die Sprache. Der Vater hat zwei Nationalitäten: neben der ukrainischen auch die bulgarische. „Mein Großvater ist 1876 wegen des Balkankriegs in die Ukraine gezogen.“
Sergij ist Ingenieur. Er sei auf technische Sicherheit und Arbeitssicherheit spezialisiert, was wegen der Annäherung der Ukraine an die europäische Wirtschaft viele Gemeinsamkeiten mit der hiesigen Ausbildung habe. Und so bringt er nicht nur 20 Jahre Berufserfahrung bei der Prüfung von Druckanlagen und im Umgang mit Industriekesseln mit, sondern auch anerkannte Ausbildungen. Fachbegriffe wie „Konformitätsbewertungsverfahren“ kann er unfallfrei auf Deutsch benutzen.
Anstellung in Hamburg erfordert Wohnsitz vor Ort
Trotzdem hat der Ingenieur noch keine Arbeit gefunden. Das Jobcenter sei keine Hilfe dabei: „Die bezahlen unser Leben, Essen, das Auto, können aber nur organisatorisch unterstützen.“ Fast 100 Bewerbungen hat er geschrieben. Aber er glaubt, seinen „Zukunftsplan Deutschland“ mit zwei Bewerbungsgesprächen bei der Dekra gefestigt zu haben. „Ich weiß, dass Deutschland Ingenieure braucht. Allerdings gibt es Bedingungen. Unter anderem muss ich einen Hochschulabschluss und einen Wohnsitz in Hamburg nachweisen.“ Das wird nicht einfach, und auch für den Sohn würde das bedeuten, die Schule zu wechseln.
So wie in der Heimat, wird es so schnell nicht wieder werden – ein unbeschwertes Leben, bei dem die dortige Großfamilie oft ins Schwimmbad ging oder intensiv dem „Rollensport“ frönte, dem Inlinerfahren. Trotz der ursprünglichen Auswanderungspläne wirkt die aktuelle Realität ohne erkennbare Rückkehrmöglichkeit hart. „Ich dachte, nach zwei Wochen oder vielleicht auch zwei Monaten, geht es wieder nach Hause“, sagt Sergij ernst. Elena hat viel geweint, als die Erkenntnis reifte. „Ich besitze weiterhin die Wohnung in Saporischschja, aber sie ist aktuell totes Kapital.“
Das Ziel lautet Traumjob. Die Mutter könnte mit besserer Sprachausbildung vielleicht wieder als Buchhalterin arbeiten. Ihre Ausbildung zur Industriekauffrau ist in Deutschland anerkannt und die Hoffnung groß. Jetzt schreckt sie nur noch ein wenig das „immer schlechte Wetter“ in Hamburg.
Hilfe aus Wachtberg
Der Ukrainertreff im katholischen Pfarrhaus in Niederbachem findet jeden zweiten Mittwoch statt. Vier bis zehn ehrenamtliche Helfer sind immer da, kochen Kaffee, backen Kuchen, oder die Gäste bringen welchen mit. Katja Ackermann, Ehrenamtskoordinatorin der Gemeinde Wachtberg, betreut die Helfer von Anfang an.
Als der Henseler Hof zur Baustelle wurde, zog der Treff um und kann auch die Bibliothek nutzen. Menschen haben Spielsachen gespendet. „Und wenn sich ein Kind zu sehr in eine Puppe verliebt, darf es die auch mitnehmen“, sagt Yvonne Baltus, die von Anfang an hilft und aktuell warme Unterwäsche für die Soldaten in der Ukraine sammelt.
Andreas Spiegel, seit einem Jahr im Ruhestand, hilft wie einige seiner Nachbarn Kindern zum Beispiel beim Zeichnen, Deutsch zu lernen. Laut Ackermann stand zu Beginn der Kampf gegen die Bürokratie im Vordergrund: „Es ging um das Jobcenter, Sprachkurse, Handy-Kartenverträge und vieles mehr.“
Wachtberg4help ist ein gemeinnütziger Verein um die Vorsitzenden Manuela Schmidt und Silvia Parting. Er sammelt medizinische Hilfsgüter und transportiert diese an die polnisch-ukrainische Grenze. Von dort übernimmt ein anderes Team von Freiwilligen, darunter mehrere Rettungssanitäter, den Weitertransport zu Krankenhäusern in Jaworiw und Lwiw in der Westukraine, zum Teil auch bis nach Kiew.
Alina Lägel aus Adendorf, ist inzwischen weniger besorgt um ihre Familie in Kiew. Die Situation habe sich stabilisiert, sagt die SPD-Politikerin. „Sie gehen zur Arbeit und absolvieren das tägliche Muss, in der Hoffnung, dass der ganze Wahnsinn bald endet.“ Kurz nach Kriegsbeginn hatte Lägel mit „Meckenheim hilft“ Hilfsgüter gesammelt. Jetzt steht sie „politisch für die umfangreichen Waffenlieferungen, volle militärische Unterstützung der ukrainischen Armee“. Lägel: „Ich schließe mich der Position unseres Bundeskanzlers Olaf Scholz an.“