Serie „Gesichter der Armut“Euskirchener Tafel versorgt immer mehr Bedürftige

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Margret Welsch und Helmi Dreifke sortieren Lebensmittel in der Euskirchener Tafel. Im Hintergrund sind prall gefüllte Regale mit Lebensmittelkisten zu sehen.

Zweimal pro Woche versorgt die Tafel Euskirchen Bedürftige mit Lebensmitteln. An diesem Dienstag sind die Regale prall gefüllt mit Obst und Gemüse, was bei weitem nicht immer so ist. Die Ehrenamtlerinnen Margret Welsch (l.) und Helmi Dreifke bereiten die Ausgabe vor.

In der Serie „Gesichter der Armut“ widmen wir uns den Auswirkungen von Armut, wie sie auch im Kreis Euskirchen zu finden sind. Ganz nah dran an Bedürftigen ist auch die Tafel in Euskirchen.

Es ist Dienstag, kurz vor Mittag. Vor dem Gebäude der Tafel Euskirchen an der Gottfried-Daimler-Straße steht bereits ein Dutzend Menschen und wartet. Die meisten haben Tragetaschen oder Einkaufstrolleys dabei. Viele unterhalten sich. Wer hier wöchentlich hinkommt, kennt die anderen irgendwann, und die Wartezeit, die manchmal bis zu zwei Stunden beträgt, wird mit einem netten Gespräch deutlich kürzer.

Die Regale in der Halle sind heute prall gefüllt. Gurken, Lauch, Blumenkohl, Kartoffeln, Sellerie, Zucchini und vieles mehr – die Auswahl ist groß. „Es gibt Tage, da wissen wir nicht, wohin mit all der Ware, und es gibt die anderen Tage“, sagt Walter Feckinghaus, der im Juni letzten Jahres den Vorsitz der Euskirchener Tafel übernommen hat.

Euskirchener Tafel brauchte vier Monate, um an Reis zu kommen

Vorhersehbar sei es nicht, wie viele Lebensmittel die Ehrenamtler abholen. „Insgesamt kann man aber sagen, dass die Zuwendungen weniger geworden sind.“ Woran das liege? Vielleicht daran, dass die Discounter im Zuge schwindender Konsumfreude generell weniger bestellen. Sicher spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass mittlerweile jeder Supermarkt die Waren, deren Mindesthaltbarkeitsdatum bald abläuft, stark reduziert im eigenen Regal lässt.

Manches sei zurzeit kaum in größeren Mengen zu bekommen, erzählt Feckinghaus. Nudeln, Öl, Konservengemüse. „Kürzlich haben wir vier Monate gebraucht, um an Reis zu kommen.“ Eigentlich würde die Tafel aus Prinzip keine Lebensmittel dazukaufen, aber wenn es nicht anders gehe, mache man auch das. Und zurzeit geht es nicht anders. Bei der Beschaffung ist die Landes-Tafel NRW behilflich, die weitaus bessere Kontakte zu großen Herstellern habe als der kleine Tafel-Verein vor Ort.

Die Kunden dürfen nur noch einmal pro Woche Lebensmittel abholen

Seit Mai letzten Jahres dürfen Bedürftige nur noch einmal pro Woche Lebensmittel abholen: Dienstags sind Kunden dran, die alleine leben oder eine kleinere Familie versorgen. Freitags werden Großfamilien mit bis zu 13 Personen bedient. „Wir waren zu dieser Maßnahme gezwungen, weil die Zahl der Abholer pro Ausgabetag teilweise auf über 140 Personen gestiegen war“, so Feckinghaus. Für diese Massen hätten die Kräfte vieler Mitarbeitenden nicht gereicht. 46 Aktive arbeiten derzeit regelmäßig mit. „Wir brauchen aber dringend kräftige Leute, die die schweren Kisten ein- und ausladen können“, sagt Feckinghaus.

Zwischenzeitlich sammeln sich immer mehr Menschen vor der Halle, warten darauf, dass der Schalter geöffnet wird, an dem sie sich anmelden und den obligatorischen Beitrag zahlen müssen. Der liegt zwischen 1,50 für Alleinstehende und vier Euro für Familien ab fünf Personen. Die Reihenfolge der Ausgabe wird jedes Mal ausgelost.

Vor dem Schalter der Tafel warten Kunden in einer Schlange, um ein Los für die Reihenfolge zu ziehen und ihren Beitrag zu zahlen.

Die Kundinnen und Kunden zahlen zwischen 1,50 und 4 Euro pro Lebensmittelausgabe, je nach Größe der Familie.

„Wichtig ist, dass es hier absolut gerecht zugeht und niemand bevorzugt behandelt wird“, sagt Michael Barion, der zweite Vorsitzende der Tafel Euskirchen. Das habe mit Würde zu tun, aber auch mit dem Vorsatz, keine Konflikte zu schüren. Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine müssen fast doppelt so viele Kunden von der Euskirchener Tafel versorgt werden. „Durch die Verteilung auf zwei Ausgabetage konnten wir einen Aufnahmestopp wie bei anderen Tafeln verhindern“, sagt Barion.

Tatjana (alle Namen der Kundinnen geändert) steht heute weit vorne in der Warteschlange, ihre Mütze hat sie tief ins Gesicht gezogen. „Dass ich eines Tages aus meinem Leben gerissen und in Deutschland sein werde, hätte ich niemals gedacht“, sagt die Ukrainerin. Noch habe sie keine Arbeit gefunden, deshalb sei das Geld oft knapp. Ob sie alleine gekommen sei? „Mein Mann und mein Sohn sind in der Ukraine geblieben“, sagt Tatjana. Am Anfang sei es ihr sehr schwergefallen, sich Lebensmittel von der Tafel zu holen. Mittlerweile sei sie einfach nur dankbar für die große Unterstützung.

Am Anfang habe ich mich schon ein bisschen geschämt, aber jetzt komme ich gerne hierher
Veronika, 42, Frührentnerin mit vier Kindern

Weiter hinten in der Schlange wartet Veronika, die frühverrentet ist und vier Kinder zu Hause hat. „Wenn es die Tafel nicht gäbe, müssten wir wohl die Tapeten an den Wänden essen“, scherzt die 42-Jährige. Mit ihrem Geld komme sie nur schwerlich über die Runden. „Am Anfang habe ich mich schon ein bisschen geschämt, aber jetzt komme ich gerne hierher“, sagt sie über die Tafel. Alle seien sehr freundlich und wertschätzend, „und meine Kinder freuen sich, wenn ich Aufschnitt und Pudding bringe und solche Sachen, die wir uns sonst nicht leisten könnten.“

Maja stammt aus Russland, lebt aber schon lange in Deutschland. Sie wirkt stolz und aufrecht und scheint fast jeden zu kennen, der mit ihr auf die Ausgabe wartet. „Ich helfe hier vielen beim Übersetzen“, sagt sie. Scham? Nein, das fühle sie nicht. Manchmal überzeuge sie andere mit wenig Geld, ebenfalls zur Tafel zu gehen.

Die beiden Leiter vor der Euskirchener Tafel. Im Hintergrund warten Abholer, um ins Gebäude an der Gottfried-Daimler-Straße eingelassen zu werden.

Andrang bei der Dienstagsausgabe: der Vorsitzende Walter Feckinghaus (l.) und sein Stellvertreter Michael Barion vor dem Tafel-Gebäude.

„Es ist schwer geworden, über die Runden zu kommen“, so die 39-Jährige. Gerade in jüngster Zeit: „Allein unsere Stromkosten sind auf fast 300 Euro gestiegen.“ Ihre drei Kinder müssten auf einiges verzichten, was ihr leidtue. Als arm aber lässt sich Maja nicht bezeichnen: „Warum auch? Ich habe eine tolle Familie, sehr liebe Jungs, ich bin zufrieden. Und hierherzukommen, ist für mich nicht schlimm.“

Vor dem Tor zur Halle stehen Guido Langen und Theo Rath. Die beiden Ehrenamtler verteilen Extraportionen Bananen und Weintrauben, von denen es heute mehr als genug gibt. Auch hier gilt: Alle werden gleich behandelt. Eine Frau, die Rath mit allen Mitteln zu überzeugen versucht, mehr Trauben zu bekommen, als er ihr zuvor gegeben hat, weist er freundlich, aber bestimmt ab.

Die Stimmung bleibt locker, und manchmal wird auch herumgealbert und gescherzt. Etwa als Veronika an der Reihe ist und Theo Rath um „eine Traube“ bittet. Damit meint sie zwar eine Schale, bekommt von ihm jedoch nur eine kleine Traube gereicht: „Wie gewünscht!“, sagt er, und beide prusten los.

Die Ehrenamtler vor Ort wissen alle, was zu tun ist. Kisten werden gewuchtet, Beutel gefüllt, Ware sortiert. Es dauert seine Zeit, bis alle Wartenden ihre Lebensmittelration erhalten haben und wieder Ruhe einkehrt. Drinnen im Aufenthaltsraum der Tafel warten zwei frischgebackene Kuchen. „Die hat heute Morgen eine Kundin vorbeigebracht“, sagt Walter Feckinghaus und strahlt. „Ein kleines Dankeschön für das, was wir hier machen.“


Die Euskirchener Tafel hat mehr als 1000 Kundinnen und Kunden

Die Anzahl der Kundinnen und Kunden ist 2022 von 529 im Januar auf 1083 im Dezember gestiegen. Von den 1083 waren 622 ukrainische Geflüchtete. Gegenüber 2021 hat sich die Zahl um 53 Prozent erhöht. An 100 Ausgabetagen wurden 9350 Abholer bedient: 2950 Einzelpersonen und 6400 Familien mit 2 bis 13 Personen.

Bei den Abholfahrten wurden rund 450 Tonnen Lebensmittel abgeholt, wovon 25 Prozent aussortiert wurden (etwa 10 Prozent mehr als in den Vorjahren). 15 Prozent wurden an Landwirte in der Region weitergegeben.

In einem Müllcontainer wird verdorbene Ware gesammelt.

Was verfault ist, kommt weg: Vier große Müllcontainer werden pro Woche gefüllt.

Um den Bedarf an haltbaren Lebensmitteln zu decken, konnte die Euskirchener Tafel 2022 dank einiger großzügiger, zweckgebundener Spenden noch rund 5,5 Tonnen haltbarer Lebensmittel einkaufen und an die Bedürftigen weitergeben. Zum Jahresende 2022 hatte die Euskirchener Tafel 60 aktive Mitarbeitende. Davon 43 über 70 Jahre, fünf über 80 Jahre.

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