Zwei Jahre nach der Flut konnten sich Marianne und Claudia Carls aus Euskirchen noch nicht von den Ereignissen im Jahr 2021 erholen.
Flutprotokolle aus Euskirchen„Du musst stark bleiben, Oma Carls!“

An den Gardinen des Partyraums ist bis heute zu erkennen, wie hoch das Wasser damals stand.
Copyright: Katrin Krause
Wenn Claudia Carls sich an die kaskadische Verkettung von Unglücksfällen erinnert, die über sie und ihre Familie hereingebrochen sind, dann erinnert sie sich in Zahlen:
Im fünften Monat des Jahres 2021 starb ihre Schwester Doris an Corona. Zwei Wochen darauf starb ihr Schwager. Am 17. Mai kam Claudia Carls selbst mit Atembeschwerden ins Krankenhaus. Zehn Tage wurde sie dort in ein künstliches Koma versetzt. Am 18. Juli hätten Claudias Reha-Maßnahmen angefangen, doch die hat sie nie antreten können, denn in der Nacht auf den 15. Juli wurden sie und ihre 88-jährige Mutter Marianne von der Flut überrascht.
Das Haus von Marianne Carls liegt direkt an der Erft. Wer bei offener Tür in ihrer Küche sitzt und ganz leise ist, hört den Fluss ab und zu glucksen. Beinahe ihr ganzes Leben hat Marianne Carls neben dem Wasser verbracht. In der Nacht, als es kam, erinnert sich die 88-Jährige, strömte es von allen Seiten. Zur Haustür rein, aus dem Keller, aus der Waschküche. Sie war alleine.

Die Erft fließt auf der gegenüberliegenden Straßenseite – direkt an Marianne Carls' Hauseingang vorbei.
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Claudia Carls konnte ihre Mutter nicht mehr erreichen
Claudia Carls hatte mehrfach versucht, ihre Mutter anzurufen. Doch die ging nicht ans Telefon. „Es war so viel Wasser“, erinnert sich Marianne Carls. „Ich hab es einfach nur angeguckt, das Wasser“, sagt sie: „Begreifen konnte ich es nicht.“ Noch heute findet die Rentnerin für das, was sie in der Nacht gesehen hat, kaum ein anderes Wort als „Wasser“.
Weil ihre Mutter den Hörer nicht abnahm, watete Claudia Carls aus ihrer benachbarten Wohnung durch das inzwischen wadenhohe Wasser. Und fand ihre Mutter in der Küche stehen – ganz paralysiert. „Wir sind dann nach oben gestiegen, etwas anderes blieb uns nicht übrig“, sagt Marianne Carls.
Zwischen den Kleidungsstücken der Schwester warteten sie ab
Mit den nigelnagelneuen Kleidungsstücken der vor kurzem gestorbenen Doris saßen Mutter und Tochter in einem Zimmer. „An Doris Kleidung waren zum Teil noch Preisschilder dran“, sagt Marianne Carls. Die anderen Habseligkeiten der Tochter und älteren Schwester lagerten seit ihrer Beerdigung im Keller und in der Garage.
„Wir hatten es noch nicht geschafft, uns darum zu kümmern“, sagt Claudia Carls. Denn die Beerdigung war nicht lang her und sich damit zu beschäftigen brauche eben Kraft, sagt sie. Eine Kraft, die weder die 88-jährige Mutter, noch die an Long-Covid erkrankte Tochter aufbringen konnten.
In den Wassermassen schwamm all das Zeug von meiner Schwester.
Doch die Flut konfrontierte die beiden gnadenlos mit dem, was sie eigentlich noch nicht wieder ansehen wollten: „In den Wassermassen schwamm all das Zeug von meiner Schwester“, sagt Claudia Carls.
Karnevalskostüme zum Beispiel, ihre Puppen und ihre ganzen Gewinne: „Sie hatte so eine Vorliebe für Gewinnspiele, Preisausschreiben oder Lose“, erinnert sie sich. Und das Verrückte daran sei gewesen, dass sie auch ständig etwas gewonnen habe. „Wir hatten ein ganzes Regal voll mit dem ganzen gewonnen Tinnef – im Keller“, sagt sie.
Der Keller ist für die Euskirchenerin bis heute ein Ort der Gespenster
Der Keller ist bis heute für Claudia Carls ein Ort der Gespenster. Sie geht nicht mehr runter – ihre Mutter auch nicht. Moderne LED-Beleuchtung ist dort inzwischen verbaut, es riecht nach frischem Putz. Doch alle Kellerräume sind leer – „und das werden sie auch bleiben“, sagt Claudia Carls.
Als das Wasser weg war, standen die Carls-Frauen vor einem großen Haufen Arbeit, den sie allein nicht bewältigen konnten. Doch während sie noch auf Trümmer und Sediment schauten, tat sich etwas in der Straße an der Erft: „Männer kamen von überall. Fünf räumten die Wohnung leer, rissen alles raus. Sogar die Bundeswehr war da und die Straße war schneller aufgeräumt als wir gucken konnten“, erinnert sich Claudia Carls an die Zeit.
Sie erinnert sich auch daran, dass jemand auf dem Fahrrad vorbeifuhr und sich umguckte. Sie wurde wütend. Dachte: „Jetzt kommen die Katastrophentouristen, um sich das Elend anzugucken.“ Der Fahrradfahrer schwenkte ein und fragte. „Kann ich helfen?“ „Ja“, schrie Claudia Carls. Sie wird heute noch laut, wenn sie die Anekdote erzählt.
Dabei hatte doch eigentlich jeder hier in unserer Straße mit sich selbst zu tun.
Der Fahrradfahrer krempelte die Ärmel hoch und befreite die Wohnung von Flutschlamm. „Und die Nachbarn brachten uns jeden Morgen Kaffee. Und wenn sie grillten, dann brachten sie uns davon auch etwas“, sagt Marianne. „Dabei hatte doch eigentlich jeder hier in unserer Straße mit sich selbst zu tun.“
Für die anstehenden Handwerksarbeiten beauftragte Mariannes Sohn eine Firma. „Die arbeiten hier auch bis heute“, sagt die 88-Jährige. Bezahlt werden sie von Fluthilfe und dem Geld der verstorbenen Tochter.
Einige Zimmer seien immer noch nicht gemacht – der Partyraum vor der Haustüre zum Beispiel. An seinen Vorhängen kann man bis heute erkennen, bis wo die Flut angestiegen ist.
Aus dem Odenwald kam ein Team Handwerker angereist, um zu helfen
„Und dann kamen unsere Engel aus dem Odenwald“, sagt Claudia Carls. Eine Brandschutz- und Sicherheitsfirma aus Rimbach hatte Fernsehberichte über die Flut gesehen. „Sie kamen in unsere Straße und fragten, wo Hilfe gebraucht wird“, sagt Claudia Carls. Die Antwort der Nachbarn: „Bei den Carls.“
Sie installierten die Heizungstherme und die Elektrik – und arbeiteten unentgeltlich. Auch zwei junge Männer aus dem Ort halfen mit den Anschlüssen: „Dennis und Dustin kamen, sobald sie Zeit hatten, und blieben bis die Arbeit getan war“, so Marianne Carls.
Die freiwilligen Helfer nannten Marianne „Oma Carls“
Auch Arbeiter aus Polen und Albanien waren zeitweise da. „Auf unserer Baustelle herrschte ein babylonisches Sprachgewirr, aber die Handwerker schienen einander zu verstehen“, erinnert sich Claudia Carls. Die Arbeit aller griff ineinander wie die Zahnräder in einem Uhrwerk.
„Die freiwilligen Helfer nannten mich Oma“, sagt Marianne Carls, „Oma Carls“, ergänzt sie. Als Marianne Carls einem der Arbeiter von ihren Schicksalsschlägen erzählte, sagte er: „Du musst stark bleiben, Oma Carls.“ Das habe sie nicht vergessen.
Marianne Carls hat sich verändert in den vergangenen zwei Jahren. „Ich bin ruhiger geworden“, sagt sie. Und dass sie sich mehr zurückziehe. Ihr Leben findet heute auf der Etage statt, auf der das Wasser stand. Meistens sitzt sie in ihrer Küche.

Der Fliesenspiegel ist ein Kunstdruck einer unverputzten Wand: eine Erinnerung an die Zeit direkt nach der Flut
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Der Fliesenspiegel ist ein Kunstdruck einer unverputzten Wand. Fast so, wie die Wand nach der Flut aussah. Galgenhumor sei das, sagt Marianne Carls. Der Tag, an dem Mutter und Tochter die neue Küche samt Fliesenspiegel ausgesucht haben, erinnert die Rentnerin als einen der besseren in den vergangenen zwei Jahren. Als ein junger Helfer aber fragte, ob sie den Fliesenspiegel als Erinnerung haben wolle, antwortete Marianne Carls: „Eigentlich nicht.“
Marianne und Claudia sind sehr dankbar für die Hilfe nach der Flut- und all den anderen Katastrophen. Ihre Rat- und Sprachlosigkeit ist zwei Jahre danach kaum gewichen: „Für uns wird es nie wieder so, wie es einmal war“, sagt Claudia Carls. Manchmal versuche sie etwa, Küchentüren zu öffnen, die es nicht mehr gibt. Und manchmal denke sie noch, das müsse sie ihrer Schwester Doris erzählen.