Was macht den Salafismus für junge Menschen attraktiv und was kann dagegen getan werden? Ein Experte gibt Auskunft und Tipps.
Problem in NRWIslamwissenschaftler erklärt in Kerpen, was Jugendliche zum Salafismus verleitet

Islamwissenschaftler und Extremismusberater Kaan Mustafa Orhon erklärt in Kerpen, was Jugendliche zum Salafismus verleitet.
Copyright: Kaan Mustafa Orhon
Der Salafismus gilt als eine besonders fundamentalistische und demokratiefeindliche Strömung des Islam, das Rheinland ist eines seiner Kerngebiete in Deutschland. Am Donnerstag (20. November) informiert der Islamwissenschaftler und Extremismusberater Kaan Mustafa Orhon im Mosaik-Haus der Vielfalt in Kerpen über den Salafismus im Rhein-Erft-Kreis. Mit ihm sprach Markus Peters.
Herr Orhon, was macht den Salafismus so problematisch?
Vieles. Zum einen gibt es eine sehr rigide Freund-Feind-Aufteilung der Welt. Jeder, der nicht zur salafistischen Gruppe gehört, gilt als Feind oder Gegner. Zum anderen existiert eine strikte, lebensbestimmende Prägung des Alltags – ohne Beziehungen außerhalb der Gruppe. Dazu kommt, dass der Salafismus die Demokratie kämpferisch ablehnt.
Wie viele Salafisten gibt es deutschlandweit?
Der Verfassungsschutz geht von etwa 11.000 Salafisten aus, die Zahl ist seit etwa vier Jahren relativ stabil, vielleicht sogar leicht rückläufig. Bei etwa 5,5 bis 6 Millionen Muslimen in Deutschland ist das eine deutliche Minderheit.
Kann man das auf den Rhein-Erft-Kreis herunterbrechen?
Auf Kreisebene habe ich keine konkreten Zahlen. Die bundesweiten Zahlen werden nach Bundesländern gestaffelt. In NRW bewegen wir uns schätzungsweise im Bereich von etwa 3.000 Personen, das entspricht einem regional relativ hohen Anteil. Der Großraum Köln/Euskirchen gehört deutschlandweit zu den Regionen mit der höchsten Gefährderdichte. Das sind Personen, denen die Behörden aufgrund ihrer Einstellung jederzeit zutrauen, eine Gewalttat zu begehen. Die Dynamik der Szene reicht bis ins Umland von Bonn, das seit über 20 Jahren als einer der Schwerpunkte gilt. Die Bonner Szene hat auch Einfluss auf den Rhein-Erft-Kreis.
Der Salafismus bietet offenbar eine gewisse Attraktivität für junge Menschen, die sich für den Islam interessieren – oder eben für diese Strömung. Woran liegt das?
Da gibt es mehrere Faktoren. Wichtig ist die Sprache. Es wird oft gefordert, dass in Moscheen mehr auf Deutsch gepredigt werden sollte. Genau das hat der Salafismus von Anfang an gemacht. Die meisten jungen Muslime, egal welchen Hintergrunds, sprechen inzwischen besser Deutsch als die Herkunftssprache ihrer Eltern oder Großeltern. Für Konvertiten gilt das umso mehr. Salafistische Angebote sind von Anfang an auf Deutsch ausgerichtet. Zudem sind Salafisten in sozialen Medien deutlich aktiver als traditionelle Moscheegemeinden. Und schließlich bietet der Salafismus ein einigendes Band. Man erlebt Religion als Gruppe, was verbindet.
Der bekannte salafistische Prediger Pierre Vogel soll in einem Bergheimer Boxclub mit Kindern und Jugendlichen trainiert haben. Wie erklärt sich seine Popularität bei jungen Menschen?
Das mag mit persönlichem Charisma zu tun haben. Jemand wie Pierre Vogel spricht kein akademisches Theologendeutsch. Er redet in kölscher Mundart, macht Witze, bleibt verständlich – auch für 15- oder 16-Jährige. Das kann ein Älterer, der als Imam in einer traditionellen Moschee predigt, sprachlich oft gar nicht vermitteln. Dazu kommt, dass jemand wie Vogel als Konvertit aus der Mehrheitsgesellschaft kommt und sagt: „Wir finden eure Religion und Kultur so faszinierend, dass wir dazugehören wollen.“ Das wirkt auf viele junge Muslime wie eine Aufwertung – gerade, wenn sie sonst oft mit Ausgrenzung konfrontiert sind.
Wenn man Lehrer, Sozialarbeiter oder Elternteil ist – gibt es Anzeichen, an denen man erkennen kann, dass sich ein Jugendlicher salafistisch radikalisiert?
Der zentrale Aspekt bei einer Radikalisierung ist immer die Bindung. Wenn man merkt, dass ein junger Mensch plötzlich enge Beziehungen abbricht, sich mit neuen Leuten umgibt, die alle sehr ähnlich wirken, dann ist das auffällig. Wenn der Freundeskreis nicht mehr nach Interessen oder Herkunft gemischt ist, sondern wie aus einem Guss erscheint, dann sollte man aufmerksam werden. Wenn dann auch noch Hobbys aufgegeben werden – etwa der Sportverein oder andere Freizeitaktivitäten –, ist das ein weiteres Signal.
Was spielt noch eine Rolle?
Die salafistische Ideologie ist sehr restriktiv. Es dürfen keine Lebewesen abgebildet werden, also keine Bilder oder Zeichnungen. Musik ist verboten, Fernsehen wird kaum oder gar nicht konsumiert. Wenn also Dinge, die früher wichtig waren, plötzlich verschwinden – etwa Haustiere, insbesondere Hunde –, dann ist das ein Hinweis darauf, dass die Ideologie bereits tief in den Alltag eingreift.
Worauf sollte man besonders achten?
Wichtig sind die Begründungen für Veränderungen. Wenn sich jemand von alten Freunden abwendet, weil diese ihn angeblich zu Sünden verleiten oder vom „rechten Weg“ abbringen, dann ist das ein Warnsignal.
Was kann man dann konkret tun?
Das Wichtigste ist, Bindungen zu stärken. Das bedeutet vor allem: deeskalieren. Viele Eltern oder Lehrer reagieren mit Unverständnis oder Ablehnung. Sie versuchen, manchmal sehr drastisch, gegenzusteuern. Das ist kontraproduktiv. Man muss versuchen, im Gespräch zu bleiben, Verständnis zeigen, ohne alles gutzuheißen. Denn genau das ist das Narrativ der Szene: „Du wirst nie akzeptiert, weder von deinen Eltern noch von der Gesellschaft.“
Also sollte man eher mit Zuneigung und Interesse reagieren?
Ja, genau. Man sollte Sorge zeigen, aber nicht konfrontativ auftreten. Und man muss verstehen, dass viele Jugendliche eigentlich nicht primär auf der Suche nach einer Religion sind. Oft geht es um andere Bedürfnisse: Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Schutz, Orientierung. Wenn jemand sich ausgegrenzt fühlt und plötzlich in einer Gruppe ist, in der jeder ihn „Bruder“ oder „Schwester“ nennt, dann ist das sehr attraktiv. Oder wenn jemand ein Vorbild sucht und in einem charismatischen Prediger eine Vaterfigur erkennt.
Sie arbeiten in der Beratungsstelle „Grüner Vogel“. Wie können Sie helfen?
Zunächst sprechen wir meist mit den Eltern. Wenn es gut läuft, gelingt später auch der direkte Kontakt zum Jugendlichen. Dann sind ausführliche Gespräche nötig, wir fragen: Was ist dir wichtig? Wie ist dein Leben verlaufen? Was fehlt dir? Wenn man erkennt, dass hinter dem religiösen Interesse eigentlich andere Bedürfnisse stehen, kann man versuchen, diese anders zu erfüllen. Und wenn es wirklich um Religion geht, vermitteln wir Kontakte zu anderen Moscheen oder Literatur, die nicht extremistisch geprägt ist. Aber in jedem Fall gilt: Bindungen stärken und verstehen, was die Anziehungskraft ausmacht.
Die Veranstaltung „Extremismus erkennen und handeln - Salafismus im Rhein-Erft-Kreis“ findet am 20. November, 19 Uhr, im Mosaik-Haus der Vielfalt, Maastrichter Straße 5, in Kerpen statt. Sie wird von Give e.V., hab8cht e.V. und der Awo Rhein-Erft & Euskirchen ausgerichtet. Der Eintritt ist frei.
Zur Person
Kaan Mustafa Orhon, Jahrgang 1984, studierte Islamwissenschaften in Bonn und leitet dort die Außenstelle des in Berlin ansässigen Projektes „Beratungsstelle Leben“ des Grüner Vogel e.V. Der Verein setzt sich für Prävention und Deradikalisierung ein und berät Angehörige, Lehrer, Sozialarbeiter und natürlich auch betroffene Jugendliche selbst. Neben seinen beiden Büros ist er auch online erreichbar. Zudem gibt es die Hotline für Deradikalisierung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter 0911/9434343
