Zum Tod von Günter GrassDas alte Fortuna im Roman verewigt
Bergheim – Die gigantische Kastanie auf dem hoch gelegenen Friedhof in Oberaußem trägt seinen Namen, und zu Füßen der Grass-Kastanie erinnert eine 2006 aufgestellte Bronzetafel daran, dass der am Montag verstorbene Nobelpreisträger Günter Grass dem Erftland ein literarisches Denkmal gesetzt hat: Die Tafel zitiert die Passage aus Grass’ berühmten Buch „Die Blechtrommel“, in der er die Aussicht vom Friedhofshügel auf das Kraftwerk Fortuna beschreibt.
Grass hat nach dem Zweiten Weltkrieg nur kurze Zeit in Fliesteden und Büsdorf gelebt, aber wäre es nach seinem Vater gegangen, hätte der junge Mann hier Wurzeln geschlagen: Der Vater, Hilfspförtner im Kraftwerk Fortuna-Nord, hatte seinem Sohn eine Lehrstelle in der Verwaltung von Rheinbraun besorgt. Doch der 19-Jährige wollte lieber Künstler werden. Die Bildhauerei war sein Traum.
In seiner 2006 erschienen Biografie schildert Günter Grass, wie er seine Eltern Helene und Willy kurz nach Kriegsende im Kreis Bergheim wiederfand. Ende 1946 oder Anfang 1947 muss es zum Wiedersehen gekommen sein. Grass hatte in Erfahrung gebracht, dass seine Familie nach der Flucht aus Danzig auf einem Bauernhof in Fliesteden untergekommen war – und fand sie an der Bushaltestelle des Dorfes.
Mit seines Schwester Waltraut wollten die Eltern gerade nach Bergheim fahren, um Zuzugspapiere abstempeln zu lassen, als Günter Grass aus dem Bus stieg. „Ich umarmte Überlebende, die mit dem Schrecken davongekommen waren“, schreibt Grass über die emotionale Familienzusammenführung.
Die Familie wohnte in der Futterküche eines großen Bauernhofs in Fliesteden, die in jenem „schrecklichen Winter 1946/47“ eiskalt war. Dann fanden die Eltern mit Grass’ Schwester ein Zimmer im benachbarten Büsdorf in der heutigen Fliestedener Straße. Auch wenn er es in seiner Autobiografie nicht erwähnt: Grass selbst war in Büsdorf gemeldet, jedoch nur für einen Monat. Im Archiv der Stadt Bergheim findet sich die Meldekarte, laut der Grass vom 3. Februar bis zum 3. März 1947 in der heutigen Windmühlenstraße 11 gewohnt haben soll. Laut Meldekarte zog Grass nach Düsseldorf.
Dem Wegzug muss ein Streit mit seinem Vater über ebenjene Lehrstelle vorausgegangen sein, die Willy Grass seinem Günter besorgt hatte. Als der Sohn davon hörte, lachte er seinen Vater aus. „Ich als Bürohengst? Lächerlich.“ Mit dem Seesack auf dem Rücken marschierte er von Büsdorf durch den tiefen Schnee nach Stommeln, „gierig nach Kunst“, wie Grass später schrieb, um mit dem Zug nach Düsseldorf zu fahren, wo er Steinmetz werden wollte.
Seinen Memoiren zufolge war Grass auch vorher schon im alten Kreis Bergheim unterwegs. Bereits im Frühjahr 1946 habe er für kurze Zeit für einen Bauern gearbeitet. Während des Pflügens habe er das Pferd am Halfter geführt, mit einem „debilen Knecht“ in einer engen Kammer geschlafen und sich in eine Melkerin aus Ostpreußen verguckt, die ihn zu einigen Gedichten inspiriert habe, die aber bereits der Bauer „in Besitz genommen habe“.
Seine Eltern, die in der Reutergasse in Oberaußem eine Wohnung fanden, besuchte Günter Grass später immer wieder. 1954 starb seine Mutter im Alter von nur 58 Jahren, in Oberaußem wurde sie hier beerdigt. Der Vater verzog in den 1960er-Jahren mit einer neuen Partnerin nach Opladen.
Eine echte, greifbare Spur von Günter Grass ist allerdings – zumindest im Original – aus dem Oberaußemer Ortsbild verschwunden. Während eines Praktikums als Bildhauer arbeitete er an einem Grabstein für den Oberaußemer Friedhof mit. 2004 wurde der Stein jedoch demontiert und entsorgt. Das Stadtteilforum ließ 2013 eine Kopie des Steins aufstellen.