Kinder im Turnsport erleben oft psychische Gewalt. Eltern müssen auf Warnzeichen achten und externe Hilfe in Erwägung ziehen.
Psychische Gewalt im SportWie können Eltern ihre Kinder schützen?

Im Leistungssport trainieren Kinder bereits 20 bis 30 Stunden in der Woche. (Symbolbild)
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Kinder, die weinend vom Training kommen. Jugendliche, die sich trotz Erschöpfung zu weiteren Wettkämpfen zwingen. Immer wieder berichten Betroffene von psychischer Gewalt im Sport. Jüngste Vorfälle im Turnsport werfen erneut eine wichtige Frage auf: Warum bleiben solche Grenzverletzungen oft lange unbemerkt – und welche Verantwortung tragen dabei die Eltern? Zwei Expertinnen erläutern Strukturen, Abläufe und mögliche Warnsignale.
Was versteht man unter psychischem Missbrauch im Sport?
Psychische Gewalt zeigt sich häufig durch Worte und Verhaltensweisen. „Es geht darum, Menschen kleinzumachen, sie zu demütigen oder zu kontrollieren“, erklärt Jeannine Ohlert, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Deutschen Sporthochschule Köln. Kritik an einer Übung sei erlaubt, „aber wenn etwa gesagt wird: „Du bist ein Vollidiot, du wirst es nie hinkriegen“, dann handelt es sich um psychische Gewalt.“
Wie Ina Lambert, Psychologin und Geschäftsführerin der unabhängigen Ansprechstelle Safe Sport e.V., berichtet, macht psychische Gewalt mit 47 Prozent den größten Anteil aller gemeldeten Gewaltformen aus.
Anfang dieses Jahres sorgten Missbrauchsvorwürfe im deutschen Turnsport für Aufsehen. Mehrere Turnerinnen, darunter die deutsche Rekordmeisterin Elisabeth Seitz, berichteten von psychischem und körperlichem Druck an den Trainingsstützpunkten in Stuttgart und Mannheim. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einen ehemaligen Trainer, Verbände wurden durchsucht. Der Deutsche Turner-Bund hat Trainer freigestellt und eine Kanzlei sowie einen Expertenrat mit der Aufarbeitung beauftragt. Ziel ist es, Missstände aufzudecken und den Schutz der Athletinnen zu verbessern.
Der Turnsport ist laut Lambert anfällig: „Im Turnen müssen bereits sehr junge Kinder extrem hohe Leistungen erbringen.“ Dazu kämen starker Leistungsdruck, Fremdbestimmung und die enge Bindung an Trainerinnen und Trainer.
Wie erleben Kinder psychischen Missbrauch?
„Wenn Kinder von Anfang an ein bestimmtes Verhalten erleben, halten sie es für normal“, erklärt Lambert. „Gerade im jungen Alter fehlt oft die Fähigkeit, Übergriffe einzuordnen.“ Viele Betroffene schildern später, dass sie sich selbst die Schuld gegeben hätten. Auch die Angst, den geliebten Sport oder wichtige Bezugspersonen zu verlieren, spiele eine große Rolle. Trainerinnen und Trainer bauten oft gezielt Abhängigkeiten auf.

Folgen der psychischen Gewalt im Sport können Depressionen oder Essstörungen sein. (Symbolbild)
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Wo sind die Eltern und welche Rolle spielen sie?
Die Rolle der Eltern im Sport ist vielseitig und oft komplexer, als es zunächst scheint. „Viele Eltern sind gar nicht beim Training dabei“, erklärt Jeannine Ohlert. „Sie fahren ihre Kinder hin und holen sie wieder ab.“ Zudem würden Vereine oder Trainer Eltern häufig bewusst auf Distanz halten.
Trotzdem zeigt die Erfahrung der Anlaufstelle Safe Sport e.V., dass Eltern eine wichtige Rolle spielen und viele sehr wohl aufmerksam sind: „Ungefähr ein Drittel unserer Ratsuchenden sind Eltern oder Angehörige“, berichtet Ina Lambert. „Oft merken sie, dass irgendetwas nicht stimmt, können es aber nicht genau greifen.“
Eltern befinden sich häufig in einem Dilemma: Einerseits möchten sie ihren Kindern den Sport, der eine bedeutende soziale Rolle spielt, nicht nehmen. Andererseits bemerken sie Veränderungen: „Einige Eltern berichten, dass ihre Kinder nach dem Training weinen, erschöpft oder niedergeschlagen sind, aber trotzdem weitermachen wollen.“ In solchen Situationen sei es wichtig, offenzubleiben und Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Ex-Olympia-Turnerin Kim Bui bestätigt diese Erfahrungen aus eigener Sicht. Durch den strengen Fokus auf ihr Gewicht entwickelte sie eine Essstörung. Im ZDF-„Sportstudio“ erzählte sie, wie schwer es ihr fiel, sich ihren Eltern anzuvertrauen. Rückblickend habe ihr Vater seine Zurückhaltung erklärt. „Er wollte nicht reingrätschen in das Trainer-Athleten-Verhältnis“, sagte Bui. „Manche Eltern sind da auch ein bisschen hilflos.“
Welche Warnzeichen sollten Eltern ernst nehmen?
„Wenn Kinder plötzlich keinen Spaß mehr am Sport haben, sich zurückziehen oder verändert wirken, sollte man hellhörig werden“, sagt Lambert. Auch Aussagen wie „Ich muss gehen, um die anderen nicht zu enttäuschen“ seien Alarmsignale. „Wichtig ist, im Gespräch zu bleiben und notfalls externe Hilfe zu holen.“
Ohlert betont zudem die Bedeutung von Aufklärung: „Eltern sollten wissen, welche Risiken im Sport bestehen, und Vereine müssen sie aktiv informieren.“ Auch Lambert fordert mehr Anstrengungen: „Es gibt zwar Informationsmaterialien, aber Eltern sind oft schwer zu erreichen.“ Der Kinderschutz müsse fester Bestandteil der Vereinsarbeit sein, damit alle Beteiligten sensibilisiert werden.
Was erschwert die Aufarbeitung und Veränderung im System?
„Es gibt viele gute Konzepte zur Prävention, aber es fehlt an konsequenter Umsetzung“, sagt Lambert. Der Fokus auf Leistung und Erfolge überdecke oft den Kinderschutz. Ohlert ergänzt: „Solange Menschen in entscheidenden Positionen, keinen Veränderungswillen mitbringen, wird nicht viel passieren.“
Eine echte Fehlerkultur, ausreichende Ressourcen und regelmäßige Schulungen aller Beteiligten seien dringend notwendig, um nachhaltige Veränderungen zu erreichen. (dpa)