Haithabu-Experte und Museumsleiter Matthias Toplak über das wahre Leben der Nordmänner und über die Beweglichkeit von Wissenschaft
Haithabu-Museumsleiter„Die Wikingerzeit ist derzeit besonders sexy“

Blick auf die rekonstruierte Wikinger-Siedlung beim Weltkulturerbe Haithabu
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Der Leiter des Wikingermuseums Haithabu, Matthias Toplak, spricht im Interview mit Martin Schultebusdorf über Wikingermythen, Frauen mit Schwertern und die Bedeutung der Comicfigur Wickie.
Herr Toplak, das Wikingermuseum Haithabu feiert sein 40-jähriges Bestehen. Wie hat sich in dieser Zeit der Blick auf die Wikinger verändert?
Der Blick verändert sich eigentlich jedes Jahr. Die Wikingerzeit ist eine Projektionsfläche für viele unterschiedliche Erzählungen. Heute prägen Serien wie „Vikings“ die Wahrnehmung. Diese Serie ist sehr populär, zeichnet aber nicht das Bild der Wikingerzeit, wie wir Archäologen es bevorzugen würden, sondern wie die Gesellschaft es gern hätte.
Ist die Popularität also eher Chance oder Gefahr für die Forschung?
Beides. Einerseits profitieren wir vom gesteigerten Interesse an der Wikingerzeit, die derzeit wohl so populär wie keine andere Epoche der Weltgeschichte und besonders sexy ist. Andererseits wollen wir bestimmten Narrativen entgegenwirken, die etwa von der rechtsextremen Szene missbraucht werden könnten. Wir müssen solche Deutungen entlarven und zeigen, dass die Wikingerzeit ein komplexes gesellschaftliches System hervorgebracht hat – mit Handel, Migration und kulturellem Austausch. Und ich hätte vor zehn Jahren nicht gedacht, dass wir einmal über kämpfende Frauen in der Wikingerzeit sprechen
...Und warum tun Sie es jetzt?
Wegen der wissenschaftlichen Neubewertung der sogenannten „Kriegerin von Birka“, eine Frau, die mit dem sozialen Status und Grabbeigaben eines mächtigen Mannes bestattet wurde. Dieser Fund passt in die aktuellen Debatten um Geschlechtsidentitäten, es gab seit Tutanchamun keinen archäologischen Fund, der weltweit so ein Aufsehen erregt hat.
Weil sich in ihm gesellschaftliche Debatten spiegeln?
Ja. Kämpfende Wikingerfrauen sind ein Paradebeispiel, wie aktuelle politische Diskussionen auch den Blick auf die Forschung beeinflussen. Und innerhalb der Wissenschaft wurde leidenschaftlich gestritten, ob die Deutung des Fundes, dass eine Frau als Mann begraben wurde, richtig ist. Ich selbst war zunächst skeptisch, weil es Widersprüche gab. Spätere Analysen haben aber viele meiner Einwände widerlegt – ich musste damals ein komplettes Buchkapitel zu dem Fund löschen und neu schreiben. Das ist eine Anekdote, die ich gern erzähle, weil sie zeigt, dass Wissenschaft beweglich bleiben muss.
Heißt das, es gab tatsächlich Kriegerinnen?
Das wissen wir nicht. Die Frau ist mit Waffen und männlicher Kleidung bestattet worden, wie ein Krieger. Aber sie hatte keine Verletzungen, die auf Kämpfe hingedeutet haben und keine besonders ausgeprägte Muskulatur. Wahrscheinlich besaß sie eine repräsentative Funktion. Ihre Bestattung war eine Inszenierung, vielleicht als „sozialer Mann“, weil sie die letzte Nachfahrin einer Familie war, die einen männlichen Erben brauchte.
Wie viel wissen wir überhaupt über die Wikingerzeit?
Erstaunlich wenig. In Haithabu sind bislang nur etwa fünf Prozent der Funde ausgegraben worden. Das bedeutet: 95 Prozent der Funde liegen noch im Boden. Da stecken also noch einige Geschichten drin. Und wir wissen wenig über das Alltagsleben, über religiöse Praktiken oder über die sozialen Strukturen der Wikinger.
Welche Frage aus der Wikingerzeit treibt Sie persönlich ganz besonders um?
Mich interessiert vor allem, wie ein Ort wie Haithabu überhaupt funktionieren konnte. Im Sommer lebten hier 2000 bis 3000 Menschen aus allen Ecken der Welt und trieben überwiegend friedlichen Handel. Dieser Ort war die Cashcow der dänischen Könige, da wurden unfassbare Mengen an Silber und an anderen Finanzmitteln bewegt. Wie wurde das organisiert? Wer sorgte für die Sicherheit, wer erhob Zölle, wer schützte das Eigentum? Woher kamen die Nahrungsmittel? Über diesen Mikrokosmos Haithabu würde ich gern viel mehr wissen, vielleicht auch deshalb, weil ich diesen Ort jeden Tag sehe.
Der friedliche Wikinger in Haithabu ist ein erstaunlicher Gegensatz zur popkulturellen Erzählung des brutalen Kriegers.
Nein, eigentlich nicht. „Wikinger“ war kein Volksname, sondern eine Tätigkeit. Ein Mann konnte Bauer, Handwerker oder Händler und im Sommer Seeräuber sein. Gewalt gehörte dazu, aber ebenso der Handel. Auch Räuber brauchen einen sicheren Rückzugsort und einen Ort, an dem sie ihre Beute verkaufen können. So ein Ort war Haithabu.
Haben Sie eigentlich ein Lieblingsobjekt in der Ausstellung?
Ja, ein sehr schlichtes: Ein Brettspiel aus Holz mit dem Namen Hnefatafl, eine Art Mischung aus Schach und Mühle. Dabei gibt es den Verteidiger des Königs, der muss mit ihm entkommen und der Angreifer muss den König von zwei Seiten festsetzen. Diese Spiele finden wir üblicherweise in den Gräbern einer männlichen Elite, mit aufwendig gearbeiteten Spielfiguren aus Glas oder Elfenbein. Aber dieses Spiel, das ich meine, ist grob geschnitzt, die Spielfiguren sind Kieselsteine. Für mich erzählt dieses Objekt am meisten über die menschliche Seite der Wikinger und ihrem Wunsch nach Ablenkung und Gemeinschaft. Die Wikinger waren Menschen wie wir und das repräsentiert dieses Brettspiel meiner Meinung nach am deutlichsten.
Und welche fiktionale Serie erzählt die menschliche Seite der Wikinger am Ende besser: Vikings oder Wickie und die starken Männer?
Wickie, eindeutig.
Trotz der unter Archäologen verpönten Hörnerhelme?
Ja. Der kleine Blondschopf mit den Hörnern am Helm ist aus wissenschaftlicher Sicht natürlich Unsinn, denn die hat es nie gegeben. Aber als Symbol ist der Hörnerhelm genial, jeder erkennt ihn sofort. Und Wickie steht für etwas, das wir bei den Wikingern oft vergessen – ihre Klugheit. Die Wikinger waren sehr erfinderisch. Sie haben Probleme nicht nur mit dem Schwert gelöst, sondern mit ihrem Pragmatismus und ihrer Intelligenz.
