Halb belgisch, halb niederländischGrenz-Chaos in Baarle

Die Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden führt mitten durch Baarle.
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Baarle – Im beschaulichen Baarle ist es ganz alltäglich, dass man im eigenen Zuhause in Belgien zu Abend isst und in den Niederlanden den Abwasch macht. Dass man bei einem Freund das Haus in den Niederlanden betritt, aber dann in Belgien im Garten zusammensitzt. Oder dass man in die Kneipe geht und in Belgien sein Bier trinkt, jedoch in den Niederlanden die Toilette aufsucht.
Willkommen in einem hoffnungslos komplizierten Städtchen, das aus zwei Gemeinden besteht: Baarle-Hertog ist belgisch, und Baarle-Nassau ist niederländisch.
Aber die beiden liegen keineswegs einfach nur nebeneinander, sondern sind so eng miteinander verstrickt wie eine bunte Patchwork-Decke. Die Grenzen ziehen sich deshalb durch Galerien und Restaurants, Gemeindesäle und sogar durch Privathäuser.
Der Grund: Es gibt insgesamt 30 Enklaven. 22 belgische Schnipsel in den Niederlanden und wiederum sieben niederländische in diesen belgischen Enklaven. Aber wäre das nicht schon verwirrend genug, liegt eine niederländische Enklave in Belgien.
Die Landvermesser verdrückten sich lieber
Die Geschichte der chaotischen Grenzziehung in Baarle reicht bis ins Mittelalter zurück - und da ins Lehenswesen und zu Streitigkeiten zwischen mehreren Adelsfamilien um ihre Ländereien. Als sich Belgien 1830 unabhängig von den Niederlanden erklärte und in der Folge auch die Grenze zwischen den beiden Ländern gezogen wurde, gab es die Chance, Ordnung zu schaffen - aber der Versuch, das Geflecht zu entwirren, scheiterte.
Die Landvermesser, die 1843 nach Baarle kamen, erkannten das Durcheinander und übersprangen den Ort kurzerhand, wollten später wiederkommen. "Nur vergaßen sie zurückzukehren", erklärt Tourismus-Chef Willem van Gool. Fortan klaffte eine kilometerlange Lücke in der Grenze. Man wusste nur so in etwa, wo das eine Land anfing und das andere aufhörte.
Erst 1974 wurde mit Grenzfestlegungen das Loch gestopft, aber es dauerte letztendlich bis zum Jahr 1995, bis die beiden Gemeinden - Baarle-Hertog und Baarle-Nassau - gegründet und die Linien zwischen den Enklaven durch Landmessungen offiziell als Grenzen zwischen den beiden Staaten anerkannt wurden. Ein Alleinstellungsmerkmal von Baarle, das sich als "Welthauptstadt der Enklaven" vermarktet.
Die rund 8600 Bewohner des Städtchens mit den roten Ziegelhäusern und den gepflegten Vorgärten bezeichnen es als "geografisches Puzzle", Willem van Gool nennt es lieber "ein großes Durcheinander". Der Chef des lokalen Tourismusbüros hat sichtlich Freude daran, seinen Gästen auf einer riesigen Karte den Flickenteppich zu erklären - und die kuriose Geschichte dahinter
Corona bringt Konstrukt an seine Grenzen
Heute markieren auf den Bürgersteigen kleine weiße Kreuze das Grenz-Kuddelmuddel. Ein Anziehungspunkt für Touristen, ein lustiges Fotomotiv dazu. Länder-Hopping an jeder Ecke möglich. Doch dann kam die Corona-Pandemie, und plötzlich sorgte die skurrile Situation für echte Probleme.
Denn nun herrschten je nach Land andere Regeln - und das komplexe Konstrukt stieß im wahrsten Sinne des Wortes an seine Grenzen. Welche Restriktionen gelten wo? Wie will man die Vorschriften einhalten, wenn Grenzen durch Restaurants und Privathäuser verlaufen? Auf der linken Straßenseite Maskenpflicht, auf der rechten nicht - und jetzt?
Zeitweise hatte zum Beispiel nur Belgien einen strengen Lockdown gegen das Virus verhängt, der Nachbarstaat Niederlande nicht. "Während die belgischen Baarler zu Hause bleiben mussten, konnten sie die holländischen Baarler am Fenster vorbeispazieren sehen", so der 70-jährige van Gool. Die Belgier durften nicht ins niederländische Café gehen und auch nicht in den Geschäften einkaufen, obwohl diese geöffnet hatten.
Discounter zieht Grenze mitten durch den Laden
Zu den Absurditäten dieser Zeit gehörte die Lösung des örtlichen Textildiscounters Zeeman. Dort zieht sich die Landesgrenze mitten durch den Laden. Weil sich der Eingang wie auch die Kasse im niederländischen Teil befinden, konnte der Textildiscounter 2020 während des belgischen Lockdowns weiter Kunden empfangen.
Um die Regeln zu befolgen, machten die Betreiber einfach den Teil des Geschäfts, der auf belgischem Boden liegt, inklusive der dort hängenden Haarspangen, Hemdchen und Handtücher, mit einem rot-weißen Absperrband unzugänglich - "aus Solidarität", wie es hieß. Der Rest blieb offen. Was sonst? "Ich brauchte Unterwäsche, aber weil sie im belgischen Teil lag, konnte ich sie nicht bekommen", erinnert sich eine holländische Baarlerin.
Mittlerweile hat sich die Situation jedoch gedreht. Weil die Niederlande Mitte Dezember aufgrund der rasanten Ausbreitung der Omikron-Variante einen strikten Lockdown verhängt haben, Belgien aber nicht, musste das Geschäft Zeeman die hellen LED-Röhren ausschalten und komplett schließen. Wie immer in Baarle: Das Schicksal ist bestimmt vom Eingang.
Vordertür von einem ins andere Land verlegt
Mit dessen Lage finden sich freilich nicht immer alle ab - und werden kreativ. Weil eine Belgierin bei der endgültigen Festlegung der Grenzen 1995 plötzlich niederländische Staatsbürgerin zu werden drohte, mauerte sie kurzerhand ihre bisherige, auf holländischem Gebiet liegende Vordertür zu und baute das auf belgischem Gebiet liegende Fenster daneben zum Eingang aus.
Auf diese Idee kommen natürlich viele, insbesondere weil die Steuerlast in Belgien deutlich höher ist. Aber eine Versetzung der Tür ist nicht mehr erlaubt, winkt van Gool ab. Dann zeigt er die Straße hinunter, wo der Sonderfall vom Sonderfall steht: ein Haus, an dem zwei Flaggen hängen und wo sich die Grenze exakt durch einen Hauseingang zieht.
Deshalb gibt es auch zwei Adressen, eine niederländische und eine belgische: Loveren 19 beziehungsweise Loveren 2. Ob die Post dadurch zuverlässiger beim Empfänger landet als etwa in Belgien, ist derweil nicht überliefert.
Dabei wünschen sich die Baarler eigentlich, ein wirkliches europäisches Dorf zu werden, ein Beispiel für den Rest Europas, nein: der Welt, mit einem besonderen Status. Denn wird hier nicht seit vielen Jahren das Pilotprojekt gelebt? Sogar der ehemalige israelische Premierminister Benjamin Netanjahu schickte einmal seine Leute vorbei, um sich das Miteinander in Baarle anzuschauen und mögliche Ideen zu sammeln zur Lösung des Grenzdisputs zwischen Israelis und Palästinensern. Es erübrigt sich zu erwähnen, wie dieser Plan ausging.
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Zu den jüngsten Errungenschaften von Baarle gehört, dass es seit vergangenem Jahr nur noch eine gemeinsame Müllabfuhr gibt. Und so wächst langsam zusammen, was zumindest Sinn macht. Praktische Gründe hat dies nicht nur. Ein bisschen nähern sie sich auch im Herzen an. Es ist dieser Tage schwer, jemanden in dem Städtchen zu treffen, der nicht voller Stolz von der Müllverbindung schwärmt. Die Feuerwehr stellen sie auch gemeinsam.
Eine Müllabfuhr, aber zwei Polizeiwachen
Aber vieles gibt es auch doppelt: Zwei Polizeieinheiten. Zwei Postämter. Zwei Priester. Zwei Rathäuser. Zwei Bürgermeister. Frans de Bont ist jener der belgischen Gemeinde. Wenn der 68-Jährige zu Fuß zur Arbeit geht, dauert das zehn Minuten, und er überquert achtmal die Grenze. Nun liegt die Frage nahe, warum man die Verwaltungen nicht einfach zusammenlegt, doch de Bont runzelt die Stirn. Nicht nur unterscheide man sich vom Charakter her - "die Belgier sind schüchterner, die Holländer wollen viel reden".
Man habe verschiedene Identitäten. "Ich setze mich dafür ein, dass unsere Kultur, unsere Gewohnheiten, unsere Identität weiterhin bestehen bleiben und gefördert werden", so de Bont, der mit einer niederländischen Baarlerin verheiratet ist. Als Beispiel nennt der Bürgermeister, dass in der örtlichen Bücherei neben einer niederländischen auch eine belgische Person verantwortlich ist, "für den belgischen Einfluss".
In den Wochen vor dem Jahreswechsel waren er und seine Landsleute vor allem vom Feuerwerks-Tourismus genervt. Weil man in Belgien das ganze Jahr über Pyrotechnik kaufen kann, in den Niederlanden aber nur an jenen drei Tagen vor Silvester - und diesmal überhaupt nicht - , pilgern Holländer zum Shopping gerne nach Baarle.
Sieben Geschäfte für Feuerwerkskörper reihen sich hier aneinander, die derzeit eigentlich nur von Belgiern besucht werden dürfen. Eigentlich. Tatsächlich tummelten sich hier aber zahllose Niederländer. Wie auch in den Restaurants und den Kneipen.
"Kommt nicht zu uns", baten deshalb jüngst belgische Bürgermeister in der lokalen Zeitung ihre Nachbarn, die im Lockdown stecken. In Baarle müssen nun die vom ersten Pandemie-Jahr verwöhnten Niederländer zuschauen, wie ihre belgischen Mitbürger einkaufen und auswärts essen gehen.