„Heul nicht, du lebst ja noch“Warum schreiben Sie über jugendliche Nazis, Frau Boie?

Lesezeit 3 Minuten
Die deutsche Schriftstellerin Kirsten Boie .

Kirsten Boie ist Trägerin des deutschen Jugendbuchliteraturpreises.

Kirsten Boies zweiter Nachkriegsroman „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ erschien im letzten Jahr. Ein Gespräch über Geschlechterrollen.

Frau Boie, ihre Bücher brechen oft mit Geschlechterklischees. Denken Erwachsene heute noch zu sehr in Klischees und drücken damit Kinder in bestimmte Rollen? Wie können wir davon wegkommen?

Ich glaube, wir sind alle bis zu einem gewissen Grad immer in dem gefangen, was wir während unserer Sozialisierung internalisiert haben. Das hängt aber gar nicht so sehr von Eltern oder Lehrern ab. Die Wirtschaft arbeitet massiv damit, natürlich aus wirtschaftlichem Interesse.

Kinder lernen so unglaublich schnell, und wenn ihnen einmal beigebracht wurde, dass Pink für Mädchen ist, dann ist Pink erst mal eine Mädchenfarbe. Aber ich erlebe mit Erstaunen und Freude bei Lesungen, dass immer mehr Jungs lange Haare haben, und zwar richtig lange Haare. Wenn ich dann Kinder aufrufen möchte, habe ich früher immer gesagt „Das Mädchen mit dem grünen T-Shirt“. Das traue ich mich inzwischen häufig nicht mehr, es könnte ja auch ein Junge sein. Es gibt da eine Entwicklung, und das ist toll, weil es signalisiert: Alle dürfen alles.

In den USA werden immer mehr LGBTQ-feindliche Gesetze verabschiedet, in Deutschland vertritt die AfD viele rechtspopulistische Positionen. Wie begegnen Sie als Autorin solchen Positionen?

Ich denke, der Satz „Alle dürfen alles“, der gilt nicht nur für die Frage der Haarlänge, sondern auch für all diese Fragen. Ich denke, wir müssen Menschen nur da einschränken, wo das, was sie tun, anderen schaden kann. Ich muss an roten Ampeln anhalten, aber welche Klamotten ich trage, ist mir freigestellt, ebenso, welchem Geschlecht ich mich zugehörig fühle. Die Diskussion wird sich hoffentlich irgendwann wieder beruhigen. Es ist jetzt schon so, dass Kinder und Jugendliche anders damit umgehen.

Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind für heutige Jugendliche gar kein großes Thema mehr. Das hängt immer auch vom Umfeld und Bildungsgrad ab, aber im Großen und Ganzen ist das kein Problem. Deshalb sehe ich die Chancen der AfD auch nicht so gut. Ich bin sehr dankbar, dass wir in Deutschland leben und nicht in den USA.

Die Vorstellung, nur weil man deutsch ist, schon zu den Übermenschen zu gehören, die hat was total Faszinierendes auf sie.
Kirsten Boie über NS-affine Jugendliche.

„Heul doch nicht, du lebst ja noch“ ist bereits Ihr zweites Buch, das sich mit der Zeit nach dem 2. Weltkrieg auseinandersetzt. Wie wichtig ist es, dass sich Jugendliche auch heute noch mit dieser Zeit beschäftigen?

Ich finde, es wird wieder wichtiger. Weil wir inzwischen mehr Jugendliche erleben, die sich tatsächlich für den Nationalsozialismus begeistern können. Also die nicht nur rechts sind, sondern für die der Nationalsozialismus ein Vorbild ist. Die Gefahr erkennt man auch an den Wegen, wie verbotene Symbole umgangen werden. Mein Lieblingsbeispiel ist die Modemarke „Consdaple“. Die existiert nur deshalb, weil, wenn man darüber eine offene Jacke trägt, die Buchstaben NSDAP zu sehen sind.

Ich denke, in der Regel sind das Jugendliche, die sich gesellschaftlich nicht vollständig integriert fühlen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben. Die Vorstellung, nur weil man deutsch ist, schon zu den Übermenschen zu gehören, die hat was total Faszinierendes auf sie. Dazu kommt, dass diese Jugendlichen nicht viel über die Zeit wissen. Sie finden die Propaganda klasse, und in der Schule haben sie dann etwas über die Schoa gelernt. Aber das macht ihnen alles keine Angst. Deshalb habe ich mir die Frage gestellt, was diese Jugendlichen kritischer machen könnte.

Was der Nationalsozialismus schließlich auch für „Übermenschen“ bedeutet hat, konnte man am besten direkt nach dem Krieg sehen, als Deutschland in großen Teilen zerbombt war und die Menschen unter Hunger und Kälte gelitten haben. Deshalb wollte ich ein Buch über Deutschland kurz nach dem Krieg schreiben und unter anderem auch aus der Perspektive eines Jugendlichen erzählen, der ein glühender Nazi war und all das geglaubt hat.

Rundschau abonnieren