Die Holocaust-Überlebende Ginette Kolinka erinnert sich an ihre Zeit in Auschwitz – und hat eine klare Botschaft.
Holocaust-Überlebende erinnert sich an Auschwitz„Die Scham werde ich nie vergessen“

Heute lacht und scherzt sie gerne: Ginette Kolinka. Die Hunderjährige spricht offen über ihre Erfahrungen während des Holocausts und hält damit einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte in Erinnerung.
Copyright: Birgit Holzer
Mit einem Alter von 100 Jahren gehört Ginette Kolinka zu den letzten lebenden Holocaust-Überlebenden. Erst spät begann die Französin, über ihre Zeit in Auschwitz zu sprechen. Ein Gespräch mit Birgit Holzer über Schuld, Trauma und ihre Botschaft an Deutsche.
An der Wand neben ihrem Bett in einer Seniorenpension in Paris hängen noch von ihrem runden Geburtstag am 4. Februar drei goldene Luftballons in Zahlenform: eine 1 und zweimal die 0 – 100. Ginette Kolinka, Jahrgang 1925, lacht viel und scherzt gerne. Sie gehört zu den wenigen Deportierten in Frankreich, die noch leben und von den Monaten im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau berichten können. Jahrzehntelang behielt sie, die als Verkäuferin in Paris arbeitete, ihre Erlebnisse für sich, erst spät begann sie, Vorträge zu geben. Bis Ende 2020 führte sie regelmäßig Schulklassen durch Auschwitz.
Als der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 endete, war das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, in dem Sie über Monate festgehalten wurden, schon befreit. Erinnern Sie sich an diesen Tag?
Nein, überhaupt nicht. Ich war an Typhus erkrankt. Deshalb war ich am 8. Mai 1945 vielleicht grundsätzlich frei, aber nach Hause kam ich erst im Juni. Die Nazis begannen im Oktober 1944, Auschwitz zu evakuieren, und ich wurde über Bergen-Belsen und das Lager Raguhn nach Theresienstadt gebracht. Ich hatte das Glück, im Zug zu fahren. Wäre ich bis zur Befreiung des KZ Auschwitz im Januar 1945 geblieben, wäre ich bei den Todesmärschen dabei gewesen. Ich weiß nicht, ob ich das überlebt hätte.
Wie war es für Sie, nach Frankreich zurückzukehren?
Sicherlich war ich froh darüber, aber ich bin nicht vor Freude explodiert, so wie viele Menschen bei der Befreiung von Paris im August 1944. Ich war immer noch geschwächt und wusste zunächst nicht, was mit meiner Familie passiert ist, ob meine Mutter und meine Schwestern überlebt hatten. Ich wusste nur, dass mein Vater und mein kleiner Bruder Gilbert ermordet worden waren. Ich selbst hatte ihnen bei der Ankunft in Auschwitz dazu geraten, in den Lastwagen zu steigen, um nicht zu Fuß bis zum Lager laufen zu müssen. Das boten die Nazis denen an, die müde waren. Das war sehr perfide, denn der Wagen fuhr sie direkt zu den Gaskammern, was ich natürlich nicht ahnen konnte.
Wie haben Sie die Ankunft zu Hause erlebt?
Zuerst wurden alle Deportierten nach Lyon gebracht. Dort traf ich eine Frau, die meine Familie kannte und mir sagte, dass meine Mutter und meine Schwestern am Leben sind und in unsere alte Wohnung zurückgekommen waren. In Paris kamen alle Deportierten in ein Ankunftszentrum in einem großen Pariser Hotel, dem Lutetia. Von dort aus nahm ich einen Bus bis zu unserer alten Wohnung. Im Haus stieß ich auf unsere alte Concierge, die mich für meinen Bruder hielt. Man hatte mir meine Haare abrasiert, da sie voller Läuse waren. Ich trug eine weite deutsche Soldatenjacke, vielleicht um meine Magerkeit zu verstecken. Ich wog nur noch 26 Kilo. Dann fielen meine Mutter und ich einander in die Arme. Geweint habe ich nicht, ich hatte schon lange keine Tränen mehr.
Drehen wir die Zeit etwas weiter zurück: Wie kam es zu Ihrer Festnahme?
Wir lebten ab 1942 in Avignon, das zunächst noch zur „freien Zone“ gehörte, die nicht von den Deutschen besetzt war, bis auch dort die Nazis einzogen. Wir wurden im März 1944 in unserer Wohnung verhaftet, weil uns jemand verraten hat. Ich habe nie erfahren, wer es war. Aber es gab auch gute Menschen, man nannte sie „die Gerechten“, die meine Mutter und meine Schwestern gewarnt und versteckt haben. Wir kamen über das Gefängnis in Marseille und das Durchgangslager Drancy bei Paris nach Auschwitz. Von den 1502 Menschen in unserem Konvoi kehrten nur 250 lebend zurück.
Wussten Sie, dass Sie in ein Konzentrationslager gebracht wurden?
Die Nazis haben uns bis zuletzt belogen, sie sagten uns, wir kämen in ein Arbeitslager. Ich war nicht beunruhigt, denn ich dachte: arbeiten, das kann ich. Doch als wir ankamen, mussten wir uns ausziehen. Die Nacktheit, die Scham werde ich nie vergessen. Ich war 19 Jahre alt. Ich wurde zum Arbeitsdienst eingeteilt und musste Pflastersteine legen. Wenn Sie einmal ein Haus bauen und die Einfahrt pflastern möchten, dann weiß ich, wie man das macht. (lacht)
Welche Beziehung hatten Sie zu den anderen Deportierten?
Ich hatte eine kleine Gruppe von Freundinnen, die ich im Durchgangslager Drancy kennengelernt hatte. Aber ich schlief mit fünf anderen Frauen in einer Art Nische, unter uns und über uns ebenfalls jeweils sechs Frauen. An sie habe ich keine Erinnerung. Wir waren immer so müde, dass wir sofort einschliefen. Über Monate durften wir uns nicht waschen – stellen Sie sich den Gestank vor! Wir schliefen in unseren Kleidern, nachdem wir sie einmal nachts ausgezogen hatten, am nächsten Tag beim Aufstehen nicht schnell genug wieder angekleidet waren und Schläge bekamen. Diese Schläge hatten nichts mit einer Ohrfeige zu tun. Die Kapos prügelten auf einen ein, bis man blutend am Boden lag. Wir fragten uns, wer diese Frauen voller Hass waren. Sie benahmen sich wie Wilde.
Sie haben das Erlebte lange Zeit für sich behalten. Warum war das so?
Ich kehrte ganz alleine zurück und wollte meiner Familie nicht noch mehr Leid bereiten, die Leute nicht mit meinen Geschichten belästigen. Aber dass ich nicht darüber sprach, heißt nicht, dass ich nicht daran dachte. Ich gehörte einem Verein von nach Auschwitz Deportierten an. Als ich längst Rentnerin war, bedrängte mich ein Mitarbeiter der Shoah Foundation von Steven Spielberg, mich für sein Projekt filmen zu lassen. Ich lehnte ab, aber schließlich kam er doch und ich redete mehr als drei Stunden lang. Über meinen Verein begann ich dann, mit Jugendlichen in die KZ-Gedenkstätte Auschwitz zu fahren. Heute sieht es dort überhaupt nicht mehr aus wie damals, alles ist viel sauberer.
Sie berichteten auch deutschen Jugendlichen von Ihren Erfahrungen. Was war bei ihnen anders?
Oft fühlen sich junge Deutsche für die Taten ihrer Großeltern verantwortlich. Aber das ist absurd. Nazis waren in der Zeit bis 1945 alle Deutschen, die Hitler unterstützt haben. Die heutigen Deutschen tragen keine Verantwortung. Ich spreche nicht über Politik, nur über meine Geschichte. Sechs Millionen Menschen wurden ermordet, weil ein Mann namens Adolf Hitler die Juden hasste. Es geht mir darum, zu zeigen, wo Hass hinführt. Uns führte er nach Auschwitz, und nur wenige kamen zurück.