Ardern analysiert in ihren Memoiren die Grenzen empathischer Politik, thematisiert persönliche Erfahrungen zwischen Angst und Hoffnung und spricht über den Satz, der sie nie losließ.
MemoirenNeuseelands Ex-Premier Jacinda Ardern packt aus

Jacinda Ardern hat ihre Memoiren „A Different Kind of Power“ veröffentlicht. Sie war von 2017 bis 2023 Premierministerin von Neuseeland.
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Im Jahr 2022 wurde Jacinda Ardern, die damalige Premierministerin Neuseelands, von einer Fremden auf der Toilette eines Flughafens angesprochen. Ardern war allein und wusch sich gerade die Hände, als eine Frau mittleren Alters an das Waschbecken trat. Sie stand unangenehm nah, erinnert sich Ardern in ihren neuen Memoiren „A Different Kind of Power“ („Eine andere Art von Macht“) – „so nah, dass ich ihre Körperwärme an meiner Wange spüren konnte“. „Ich wollte nur Danke sagen“, sagte die Frau mit wütender Stimme. Dann der Satz, der hängen blieb: „Danke, dass Sie das Land ruiniert haben.“
Es ist eine Szene, die sinnbildlich für Arderns letztes Amtsjahr steht: Während sie international für ihren empathischen Führungsstil und als neue Ikone der Linken gefeiert wurde, bröckelte der Rückhalt in der eigenen Bevölkerung. Ihre Labour Party sackte in den Umfragen ab, wirtschaftliche Sorgen, wachsende soziale Ungleichheit, ein zunehmend aggressiver Ton in den sozialen Medien und rechte Proteste setzten ihr zu – bis Ardern im Januar 2023 überraschend zurücktrat.
Erschöpfung, Schuldgefühle, Druck
In ihrem Buch zieht sie nun Bilanz. Es ist keine klassische Politiker-Autobiografie, sondern ein persönlicher Rückblick auf die Herausforderungen von Macht, auf Mutterschaft, Zweifel und Verantwortung – und eine Reflektion darüber, was Führung im 21. Jahrhundert bedeuten sollte. Ardern schildert prägende Momente ihrer Amtszeit, aber auch ihre Erschöpfung, den Druck und das Schuldgefühl, wenn sie ihre Tochter Neve zu oft nur schlafend sah. Zudem enthüllt sie in ihren Memoiren, dass ihre Rücktrittsentscheidung von der Angst vor einer Krebserkrankung beeinflusst war – ein Fehlalarm, der ihr jedoch zeigte, wie sehr sie der Job bereits gezeichnet hatte.
Gleichzeitig ist Arderns Buch ein Plädoyer für eine andere Form von Führung – empathisch, pragmatisch, verletzlich. Sie reflektiert ihre eigenen Zweifel, ohne sich völlig preiszugeben. Der neuseeländische Politikforscher Grant Duncan nennt das Buch ein „Manifest für Führung – besonders für Frauen oder für Menschen jeglichen Geschlechts, die an sich selbst zweifeln“.
So beschreibt Ardern, wie sie sich in den frühen Jahren ihrer politischen Karriere oft fragte, ob sie zu sensibel sei für das raue Geschäft der Macht. Als junge Abgeordnete im Umfeld der neuseeländischen Labour-Ikone Helen Clark ließ sie sich von den Sticheleien politischer Gegner noch verunsichern. „War ich zu dünnhäutig für die Politik?“, fragt sie rückblickend. Ihre Antwort lautete bald: Nein – man könne sensibel sein und trotzdem überleben.
Wie sie Empathie zu ihrer Stärke machte, zeigte sich auf eindrucksvoller Weise nach dem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch im März 2019, bei dem ein rechtsextremer Attentäter 51 Menschen ermordete. Während weltweit Debatten über Islamfeindlichkeit und Einwanderung hochkochten, entschied sich Ardern für ein Zeichen der Solidarität: „They are us“ – „Sie sind wir“, erklärte sie öffentlich und trug dabei ein schwarzes Kopftuch. Ein Bild, das um die Welt ging. „Emotionen, die leicht in eine Spirale aus Schuldzuweisungen hätten führen können, lenkte sie in Richtung geteilter Trauer und Aroha“, schreibt der Forscher Duncan. „Aroha“ – das maorische Wort für Liebe und Mitgefühl – wurde zum Leitmotiv ihrer Amtszeit.
Corona-Politik kostete Ardern ihre Beliebtheit
Doch Mitgefühl allein genügt nicht in der Politik – auch das zeigt Arderns eigene Geschichte. Spätestens mit der Corona-Pandemie stieß ihre empathische Führung an Grenzen. Zwar gelang es ihrer Regierung, durch harte Maßnahmen viele Leben zu retten. Doch die Kehrseite war ein wachsender Frust in Teilen der Bevölkerung, die sich nicht gehört fühlten: Unternehmer, die ihre Existenz verloren, Ungeimpfte, die ausgegrenzt wurden, Menschen, die lange nicht zu ihren Familien zurückkehren konnten.
Als 2022 Protestanten wochenlang das Parlamentsgelände in Wellington besetzten, verweigerte Ardern ihnen das Gespräch. „Wie könnte ich das Signal senden, dass man durch illegale Besetzung des Parlamentsgeländes seine Forderungen durchsetzen kann?“, begründete sie ihre Entscheidung. Duncan hält das für einen Fehler: „Sie – oder ein ranghoher Minister – hätte ihre Forderungen anhören und erklären können, warum sie nicht erfüllt werden können.“ Stattdessen überließ Ardern das Feld populistischen Stimmen, die politisch von der Situation profitierten.
Eine kritische Reflektion ihrer eigenen Politik bleibt in ihrem Buch jedoch aus. Auch umstrittene Reformprojekte wie die Umstrukturierung der Wasserversorgung, eine geplante Arbeitslosenversicherung oder Initiativen zur Co-Governance mit der indigenen Bevölkerung der Mori, die von der Opposition erfolgreich gegen Ardern verwendet wurden, nicht erwähnt.
Dennoch ist ihr Buch keineswegs ein politisches Abrechnungswerk – vielmehr wirbt es für einen Führungsstil, der empathisch und menschlich bleibt. Es steht in bewusstem Kontrast zu Rechtspopulismus und den autoritären „Strongmen“ unserer Zeit.
Tatsächlich ist Jacinda Arderns Art zu führen längst zu ihrem Markenzeichen geworden – so sehr, dass sie heute an Eliteuniversitäten spricht und bei internationalen Konferenzen gefragt ist. Schon während ihrer Amtszeit galt sie vielen als wohltuendes Gegenmodell zum damaligen und aktuellen US-Präsidenten, der nicht zufällig einen „Krieg“ gegen die angesehene Harvard University erklärte – eben jene Institution, die Ardern nach ihrem Rückzug aus der Politik als Gastwissenschaftlerin aufnahm.