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Seltene ErkrankungGünter Pütz bekam seine Diagnose nach 35 Jahren Odyssee

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PIC Diagnose nach 35 Jahren Odyssee

Die Gewissheit brachte Günter Pütz Entspannung. Heute ist der „Tag der seltenen Erkrankungen“.

Bonn/Isernhagen – Günter Pütz aus Isernhagen bei Hannover ist unheilbar krank. Er hat das sogenannte Canvas-Syndrom, bei dem Kleinhirn, Gleichgewichtsorgane und Nerven degenerieren. Pütz ist oft schwindelig, Motorik und Koordination sind gestört. Behandlungsmöglichkeiten gibt es keine. In ein paar Jahren, sagt der 71-Jährige, wird er wahrscheinlich im Rollstuhl sitzen. Schon heute muss er sich abstützen, wenn es dunkel ist, um nicht umzufallen. Dennoch sagt er: „Als ich die Diagnose bekommen habe, war ich euphorisch.“

Pütz’ Krankheit ist eine sogenannte seltene Erkrankung. Das heißt, dass es unter 100 000 Menschen weniger als 50 Betroffene gibt. Von den ersten Symptomen bis zur Diagnose vergingen bei Pütz 35 Jahre. Unzählige Male stellte der Zahnarzt sich bei Ärzten vor. Auf den richtigen Weg brachte ihn ein Besuch im Bonner Zentrum für seltene Erkrankungen an der Uniklinik. Das Zentrum gibt es seit 2011, es war das erste seiner Art in Nordrhein-Westfalen. Inzwischen haben auch die Unikliniken in Aachen, Bochum, Düsseldorf, Essen und Münster solche Zentren eingerichtet. In Bonn ist man auf neurologische Erkrankungen spezialisiert, wie der Sprecher des Zentrums, Thomas Klockgether, erklärt, der auch Direktor der Klinik für Neurologie ist. Ein eigenes Gebäude hat das Zentrum in der Bonner Uniklinik nicht. Es gibt 15 Spezialambulanzen, darunter etwa für Bewegungsstörungen wie die von Günter Pütz.

Interpod als Schaltzentrale

Wenn jemand sich an das Bonner Zentrum wendet, landet er bei Christiane Stieber. Die promovierte Biologin leitet die sogenannte Interpod (kurz für Interdisziplinäre Kompetenzeinheit für Patienten ohne Diagnose), die Schaltzentrale des Zentrums. Dort werden alle Patientenanfragen geprüft. „Nicht umsonst klingt das ein bisschen wie Interpol“, sagt Stieber und lacht. Die Arbeit, die sie gemeinsam mit fünf Kollegen erledige, sei der von Kommissaren nicht unähnlich: Jeder Fall sei individuell, jede noch so kleine Spur relevant.

Auch bei Günter Pütz forderten die Experten alle medizinischen Unterlagen an. Viel Material, sagt Pütz. „Mit Mitte 30 habe ich das erste Mal gedacht: Da stimmt etwas nicht.“ Grund waren Schmerzen und Muskelzucken in den Waden. Das Zucken sei immer mehr geworden. Als erstes habe er einen Hausarzt aufgesucht, der Magnesium verschrieb. In einem Institut für neurodegenerative Erkrankungen in München wurde später immerhin klar: Es hat mit den Nerven zu tun. In der Zwischenzeit wurden erst Pütz’ Füße taub, dann breitete sich das Gefühl zu den Händen und ins Gesicht aus. Gefühl und Kraft ließen nach, dazu kamen Gleichgewichtsstörungen. Mit Anfang 60 reduzierte er seine Arbeitszeit, hörte wenige Jahre später ganz auf. Gab das Joggen auf, das Skifahren, auch lange Spaziergänge wurden immer schwieriger. Schließlich, sagt Pütz, habe er in Bonn angerufen – und wurde nach Prüfung seines Falls auch eingeladen.

500 Anfragen pro Jahr

Lange nicht jeder, der sich meldet, bekommt auch einen Termin, sagt Christiane Stieber. Es gebe mehr als 500 Anfragen pro Jahr – aber derzeit nur eine Fallkonferenz pro Woche. Jede Konferenz werde auf den jeweiligen Patienten abgestimmt. Selbst dann sei eine Diagnose aber alles andere als sicher, sagt Thomas Klockgether. Nur rund zehn Prozent der Patienten, die nach Bonn kommen, leiden tatsächlich an einer Seltenen Erkrankung. „Wir können eine Diagnose nicht versprechen“, sagt Stieber, „aber wir schauen genau hin.“

Bei Günter Pütz geschah das bei einem Gespräch mit Klockgether. „Er hat meine Akte weggeschoben und gesagt: ‚Erzählen Sie mal’“, sagt der 71-Jährige. Danach habe er ihn untersucht, unter anderem Reflexe und Gleichgewichtssinn. „Dann hat er auf eine Steckdose gezeigt und gesagt: Was sehen Sie?“ Die Steckdose, so Pütz, habe vor seinen Augen hin- und hergetanzt, wenn er den Kopf bewegte. Da habe Klockgether gesagt „Ich weiß, was Sie haben“, so Pütz: „Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen.“