„Holt uns hier raus“So dramatisch schildern Betroffene das verheerende Beben

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Türkei, Adana: Mitglieder eines Notfallteams halten einen Moment inne, während sie in einem zerstörten Gebäude nach Menschen suchen.

Türkei, Adana: Mitglieder eines Notfallteams halten einen Moment inne, während sie in einem zerstörten Gebäude nach Menschen suchen.

Das schwerste Erdbeben im östlichen Mittelmeerraum seit hundert Jahren fordert mindestens 3400 Todesopfer. In den sozialen Netzwerken schildern viele Menschen, wie sie auf Hilfe warten.

„Helft uns bitte, holt uns hier raus“, schreit ein Mann in einem Trümmerhaufen in Kahramanmaras; seine Handy-Kamera zeigt einen zerquetschten Bürostuhl und ein verrenktes Bein in einem engen Hohlraum unter den Trümmern. „Wir bluten, und einer meiner Kollegen macht keinen Mucks mehr“, ruft der Mann und gibt die Adresse des eingestürzten Hauses und die Namen der drei Verschütteten durch.

Schwerstes Erdbeben seit hundert Jahren

Wenige Stunden zuvor hatte das schwerste Erdbeben im östlichen Mittelmeerraum seit hundert Jahren große Teile der Südost-Türkei und Nord-Syriens zerstört. Allein in der Türkei stürzten nach dem Beben der Stärke von bis zu 7,8 in der Nacht zum Montag fast 2000 Wohngebäude in Städten und Dörfern entlang der syrischen Grenze ein. Millionen Menschen leben im türkisch-syrischen Katastrophengebiet, mindestens 2300 wurden bis Montagnachmittag tot geborgen, am Dienstagmorgen waren es bereits 3419. Die Opferzahl dürfte noch weiter steigen, zumal die Erde weiter bebte: Kurz nach Mittag erschütterte am Montag ein weiterer Erdstoß der Stärke 7,7 die Region. Die Versorgung der Überlebenden mitten im Winter wird schwierig, besonders in den syrischen Flüchtlingslagern und kriegszerstörten Städten wie Aleppo.

Syrien, Aleppo: Dieses von der syrischen Nachrichtenagentur SANA veröffentlichte Foto zeigt Rettungskräfte und Freiwillige, die Such- und Rettungsmaßnahmen in den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes durchführen.

Syrien, Aleppo: Dieses von der syrischen Nachrichtenagentur SANA veröffentlichte Foto zeigt Rettungskräfte und Freiwillige, die Such- und Rettungsmaßnahmen in den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes durchführen.

Hilferufe wie der Handy-Appell aus Kahramanmaras fluteten die sozialen Medien in der Türkei, wo Tausende Menschen um Rettungstrupps flehten – manche von ihnen live aus den Trümmern. „Hört uns jemand?“, keuchte ein Student in Kahramanmaras zu wackeligen Bildern aus einer Lücke zwischen eingesackten Wänden, die er auf Instagram stellte. „Meine Mutter und ich sind im siebten Stockwerk eingeschlossen, und jetzt läuft Wasser herein.“ Verzweifelte Angehörige schickten Hunderte Adressen und Anfahrtsskizzen von Einsturzstellen auf Twitter, um Bergungstrupps anzufordern. „Mutter, Mutter, wo bist du?“, schrie ein junger Mann in der Dunkelheit seiner eingestürzten Wohnung in Antakya in sein Handy; er wurde am Morgen aus den Trümmern geborgen, doch seine Mutter blieb vermisst.

Mehr als 50 Nachbeben bereits in den ersten zehn Stunden

Die Türkei liegt auf der Grenze zwischen zwei tektonischen Platten, die ständig in Bewegung sind, und ist Erdbeben gewöhnt. Unglücke wie dieses hat es jedoch seit fast hundert Jahren nicht mehr gegeben: Einstürze wurden in einem Gebiet von der Provinz Hatay an der Mittelmeerküste bis zum syrischen Aleppo und von dort bis ins 300 Kilometer entfernte Diyarbakir in der Türkei gemeldet. Mehr als 50 Nachbeben wurden bereits in den ersten zehn Stunden gezählt, mit weiteren in den nächsten Tagen wird gerechnet. Selbst auf der Mittelmeerinsel Zypern waren die Erdstöße zu spüren.

Die Beben waren stärker als jenes, das im Jahr 1999 in der Nähe von Istanbul etwa 20000 Menschen tötete. Im Jahr 1939 starben im nordostanatolischen Erzincan mehr als 30000 Menschen bei einem Beben der Stärke 7,8. Für Syrien war der Erdstoß vom Montag das schwerste Beben seit den 1920ern.

Das Epizentrum lag in der Kreisstadt Pazarcik, die etwa 20 Kilometer östlich von Kahramanmaras und etwa 90 Kilometer nördlich der syrischen Grenze liegt. Luftbilder zeigten großflächige Zerstörungen in Wohngebieten. Der Rettungsarbeiter Suat Yenipinar sagte der Nachrichtenplattform Duvar: „Es gibt kaum ein Haus in Pazarcik, das noch steht. Wie viele Gebäude hier eingestürzt sind, kann ich nicht zählen – ich könnte nur zählen, wie viele noch stehen.“

Viele Orte sind noch nicht erreichbar

Nach Angaben des türkischen Katastrophenschutzamtes entlud sich die tektonische Spannung beim ersten Beben am Morgen nur sieben Kilometer unter der Erdoberfläche – bei solchen flachen Beben sind die Schäden häufig größer als bei Erschütterungen tiefer im Erdinnern. Bis zum Nachmittag konnten noch nicht alle Teile des Unglücksgebietes erreicht werden. Mancherorts waren Straßen in den betroffenen Städten und Überlandstraßen wegen Trümmern oder zerstörter Brücken unpassierbar. In der Millionenstadt Gaziantep wurde die 1500 Jahre alte Stadtfestung schwer beschädigt.

dpatopbilder - 06.02.2023, Türkei, Adana: Ein Mann sucht nach Menschen in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes.

Ein Mann sucht nach Menschen in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes.

Überall im türkischen Katastrophengebiet gruben sich Helfer auf der Suche nach Opfern durch Betonplatten und Baustahl. Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte, neben zivilen Helfern seien auch Einheiten der Armee im Rettungseinsatz. Insgesamt suchten demnach 9000 Helfer nach Überlebenden; zehntausende Zelte und Feldbetten sowie mehr als tausend Feldküchen wurden nach Angaben des türkischen Katastrophenschutzes bis zum frühen Abend ins Unglücksgebiet gebracht.

Vergebliches Warten auf Hilfe

Trotz des Hilfseinsatzes klagten viele Betroffene in den sozialen Medien, sie warteten vergeblich auf Unterstützung bei der Suche nach Vermissten. Kritiker werfen den türkischen Behörden vor, Verstöße gegen Bauvorschriften zu ignorieren und damit Menschenleben zu gefährden. Bilder aus einigen betroffenen türkischen Städten zeigten, dass manche Wohnhäuser bei den Beben intakt blieben, während Gebäude unmittelbar daneben völlig zerstört wurden.

Die Behörden riefen die Menschen im Unglücksgebieten auf, trotz des schlechten Wetters – in Kahramanmaras regnete es bei sechs Grad – nicht in zerstörte Häuser zurückzukehren. Tausende Obdachlose sollten in Sporthallen, Moscheen und öffentlichen Sälen für Familienfeiern untergebracht werden; in den sozialen Medien boten zudem Privatleute an, Erdbebenopfer in ihren Wohnungen aufzunehmen.

Deutschland und mehr als 40 andere Staaten boten der Türkei und Syrien ihre Hilfe an; darunter Griechenland und Armenien, deren Beziehungen mit Ankara seit Langem gespannt sind. Selbst die Kriegsgegner Ukraine und Russland erklärten, sie seien zur Entsendung von Hilfe nach der Katastrophe bereit. Nach Angaben eines Sprechers der EU-Kommission wurden gestern bereits mehr als zehn Such- und Rettungsteams mobilisiert, um die Ersthelfer vor Ort zu unterstützen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu teilte mit, auf türkisches Ersuchen hin die Entsendung von Such- und Rettungsteams sowie von medizinischen Teams in beiden Ländern angeordnet zu haben: „Da wir darum gebeten wurden, dies auch für die vielen Verletzten des Erdbebens in Syrien zu tun, habe ich dies ebenfalls angewiesen.“ Offiziell befinden sich Israel und Syrien im Krieg. Auch diverse Hilfsorganisationen stellten Soforthilfen bereit.

Moderne Medien im Einsatz für die Rettungsarbeiten

Der Flughafen in Hatay am Mittelmeer musste wegen schwerer Schäden geschlossen werden, andere Flughäfen in der Region wurden für zivile Flüge gesperrt, um sie für die Ankunft von Helfern und Hilfsgütern frei zu halten. Trotz des schweren Bebens blieb die Kommunikations-Infrastruktur im Unglücksgebiet indes weitgehend unzerstört. Die türkischen Behörden versuchten deshalb, moderne Medien für die Rettungsarbeiten einzusetzen. Handynetze und Internet können im Katastrophengebiet kostenlos benutzt werden; das Katastrophenschutzamt stellte ein Formular online, mit dem Betroffene staatliche Hilfe anfordern können. Nach dem Beben nahe Istanbul von 1999 war die staatliche Hilfsaktion für die Opfer erst mit mehreren Tagen Verspätung angelaufen, was viele Menschen das Leben kostete.

Auf der türkischen Seite des Katastrophengebiets leben mehr als 15 Millionen Menschen, einige Städte des Erdbebengebietes beherbergen zudem noch Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien. In den vom Beben betroffenen Gegenden in Syrien leben nach zwölf Jahren Krieg zwar weniger Menschen als auf der türkischen Seite der Grenze, doch leiden sie schon in normalen Zeiten unter Versorgungsmängeln. Der Syrien-Experte Charles Lister vom Nahost-Institut in Washington schrieb auf Twitter, in der Wirtschaftsmetropole Aleppo, die zum Herrschaftsgebiet der syrischen Regierung gehört, seien zwei Drittel der Infrastruktur schon vor dem Erdbeben zerstört gewesen. Videos aus Aleppo vom Montag zeigten, wie Gebäude zusammenbrachen.

Ähnlich sah es in den Gegenden entlang der türkischen Grenze aus, die von Regierungsgegnern kontrolliert werden. Ein Sprecher der Hilfsorganisation „Weißhelme“ meldete sich am Morgen per Video aus dem Rebellengebiet im Nordwesten Syriens. Hinter ihm war eine Straße zu sehen, in der alle Häuser zerstört waren. Die „Weißhelme“ helfen normalerweise nach Luftangriffen der Syrer oder Russen. Gestern waren sie im kalten Winterregen nach dem Erdbeben im Einsatz. „Hunderte Menschen sind tot, vielleicht Tausende verletzt“, sagte der Helfer mit brechender Stimme. „Viele Familie sind noch unter den Trümmern begraben. Wir brauchen Hilfe.“ In der Rebellenprovinz Idlib, in der drei Millionen Menschen Zuflucht vor der syrischen Armee gefunden haben, und anderen Teilen Nord-Syriens wohnten viele Menschen bisher in Zelten, in halbfertigen Häusern oder in Ruinen. Viele Unterkünfte hielten dem Beben nicht stand. „Unsere Gesundheitsstationen sind voll mit Verletzten und den Leichen der Todesopfer“, sagte Fadi al-Dairi von der Hilfsorganisation Hihfad unserer Redaktion. (mit dpa/afp)

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