Vor über 50 Jahren nahm die damals 19-jährige Mareile Ventur vier Jugendliche in ihrem Auto mit. Zwei von ihnen überlebten die Fahrt nicht. Erstmals spricht sie über den Tag, der ihr Leben veränderte.
Ex-Kölnerin verursachte Unfall mit zwei Toten„Frage mich, was aus ihnen geworden wäre“

Auf einer kurvigen Landstraße verursachte Mareile Ventur am Nikolaustag 1971 einen tödlichen Unfall.
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„Bloß nicht auf die Wiese fahren, dann schimpft Vater“ – das ist der letzte Gedanke, der Mareile Ventur durch den Kopf schießt, als ihr Auto ins Schleudern gerät. Es ist der 6. Dezember 1971, sie ist 19 Jahre alt und auf dem Heimweg von der Ausbildung. Wenige Minuten später sind zwei Jugendliche tot.
Mit ruhiger Stimme berichtet die heute 72-Jährige von dem Tag, der ihr Leben verändert hat. Ventur sitzt im Wohnzimmer ihres Hauses im emsländischen Herzlake, auf dem Sofa liegt ein Kissen mit der Aufschrift „Lieblingsplatz“. Ventur trägt kurzes braunes Haar, Brille und grünen Pullover. Fotografiert werden möchte sie nicht – aber erzählen, was sie vor mehr als 50 Jahren erlebt hat.
Der verhängnisvolle Nikolaustag
Der Nikolaustag 1971 beginnt wie so viele zuvor. Von Fürstenberg im Landkreis Holzminden fährt die damals 19-Jährige ins nordrhein-westfälische Höxter, nur sieben Kilometer entfernt. „Meine Mutter sagte immer: Fahr vorsichtig. Aber das war für mich alltäglich“, sagt sie. Auf dem Rückweg zum Mittagessen im Elternhaus hält sie an der Bushaltestelle im Dorf. „Damals war es total üblich. Wenn jemand in dieselbe Richtung musste, nahm man sie mit.“ Vier Schüler zwischen 14 und 15 Jahre alt aus ihrem Heimatort steigen zu. Darunter auch Barbara, die Schwester ihres Freundes.
Wenige Kilometer später verliert Ventur die Kontrolle über ihren Ford 17M. „Ich kann es mir bis heute nicht erklären“, sagt sie. Nach den Feststellungen des Gerichts holte sie in einer Rechtskurve zu weit nach links aus und lenkte dann so stark zurück, dass der Wagen von der Fahrbahn abkam. „Nach etwa 30 Metern kam der Wagen von der Fahrbahn ab und prallte zehn Meter weiter mit dem hinteren rechten Teil gegen einen Straßenbaum“, heißt es im Urteil. Zu schnell war Ventur nicht unterwegs, doch ihre mangelnde Erfahrung als Fahranfängerin und die unterschiedliche Bereifung könnten eine Rolle bei dem Unfall gespielt haben.
Hilflos auf einsamer Straße
Ventur fliegt durch die Windschutzscheibe und verletzt sich am Kinn. Ihre Beifahrerin wird ebenfalls aus dem Auto geschleudert, der Jugendliche auf dem Mittelsitz hinten brach sich drei Rippen. „Die beiden anderen haben geweint, ich habe sie aus dem Auto gezogen und versucht in die stabile Seitenlage zu bringen“, sagt sie. Doch die Jugendlichen rutschen immer wieder in den Graben, in dem der Wagen liegt.
„Wir waren im Nichts – drei Kilometer in die eine und drei in die andere Richtung“, erinnert sich Ventur. Irgendwann hielt eine Autofahrerin an – und fährt weiter. Erst im nächsten Ort kann sie bei der Polizei anrufen.
Die schmerzhafte Wahrheit
An die Stunden danach erinnert sich Ventur nur bruchstückhaft. Sie und die anderen kommen ins Krankenhaus. „Ich habe gedacht, es wäre noch glimpflich ausgegangen. Ich habe sie ja noch weinen gehört“, sagt sie. Wenn sie ihre Mutter nach den anderen gefragt habe, habe sie immer wieder abgelenkt. Sie solle erstmal gesund werden.
Tage später tritt die Mutter ihres Freundes ans Krankenbett – zugleich die Mutter der toten Barbara. „Sie trug Schwarz, das trug sie sonst nicht, da wusste ich Bescheid“, sagt Ventur und erinnert sich unter Tränen an die Worte der Frau. „Sie sagte zu mir: ‚Weine nicht mein Kind, du bist mir geblieben‘“, sagt Ventur.
Während Ventur noch im Krankenhaus liegt, werden in ihrem Heimatdorf die beiden Jugendlichen beerdigt. Von den Familien der Toten habe sie nie ein schlechtes Wort gehört. Lange bleibt Ventur danach nicht mehr in ihrem Heimatort, sie beendet ihre Ausbildung zur Buchhalterin und zieht mit ihrem Freund nach Köln. „Dort kannte mich keiner und auch nicht diese Geschichte“, sagt sie.
Leben mit der Erinnerung
Vor dem Schöffengericht in Holzminden wird ihr knapp ein Jahr nach dem Unfall der Prozess gemacht. Ventur wird wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 500 Mark verurteilt. „Meine Familie und besonders meine Mutter haben das alles sehr von mir ferngehalten“, sagt sie. Im Urteil heißt es, das Gericht habe „den Eindruck erlangt, dass die Angeklagte durch die Unfallfolge erheblich belastet ist“.
Das Geschehene macht Ventur vor allem mit sich selbst aus. Notfallseelsorge gibt es damals noch nicht. „Für mich war es immer wichtig, nach vorne zu schauen und mein Leben zu leben“, sagt sie. Nur wenn sie von Unfällen hört, kommen die Erinnerungen wieder hoch – manchmal bis zum Weinkrampf.
Wochen nach dem Unglück setzt sie sich wieder hinters Steuer, doch einen Entschluss hält sie bis heute: „Jemanden mitnehmen – das habe ich nie wieder gemacht.“ Dann fügt sie hinzu: „Das wünscht man niemandem, dass so etwas passiert.“
Ventur bleibt einige Jahre in Köln und arbeitet als Buchhalterin, später macht sie sich mit einem Umzugsunternehmen selbstständig. Einer der Umzüge führt sie nach Herzlake. Als Rentnerin zieht sie ins Emsland.
Wenn sich heute der Nikolaustag jährt, denkt Ventur an die beiden Toten. „Ich frage mich, was wohl aus ihnen geworden wäre. Mittlerweile wären sie ja auch Rentner, wie ich“, sagt sie und legt ihre Hände in den Schoß.