Forscher warnen vor Langzeitfolgen für die Gehirne von Kindern durch die intensive Nutzung von TikTok, Instagram & Co.. Grund sind die mangelnden Lernprozesse in der Entwicklung.
Experten warnenVerkümmern die Hirne von Kindern durch TikTok und Co.?

Kinder und Jugendliche verbringen immer früher immer mehr Zeit am Bildschirm - sei es für Tiktok, Online-Spiele oder zum Lernen.
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Es wäre fast schon eine Revolution. Zumindest eine kleine, mal wieder eine französische: Frankreichs Premier Gabriel Attal macht es jetzt zur staatlichen Aufgabe, die Nutzung sozialer Medien einzuschränken: Wer jünger als 13 Jahre ist, soll nicht mehr auf Tiktok und Co. herumwischen dürfen. Eigentlich sollte sich Attal damit gar nicht beschäftigen müssen. Denn genau so steht es in den Nutzungsbedingungen von Instagram, Tiktok, Snapchat und Pinterest: Nur wer älter als 13 ist, darf sich dort anmelden (Bei Whatsapp liegt die Grenze in der EU bei 16 Jahren.) Allerdings ist die Realität eine andere: Grundschulkinder tauschen Bilder über Snapchat aus, Zehnjährige schauen im Schulbus Tiktok-Livestreams.
Denn grundsätzlich können Plattformbetreiber gar nicht verhindern, dass sich Kinder unter 13 Jahren bei Social Media anmelden. Wer schon mit zehn Jahren Tiktok-Videos schauen will, muss nur ein falsches Geburtsdatum angeben – und kann dann Kurzvideos nonstop über den Bildschirm rasen sehen.
Vorstöße wie die Attals gründen nicht allein auf Sorgen wegen möglicherweise nicht jugendfreier Inhalte. Es geht um das kindliche Gehirn an sich. Die Forschung dazu ist noch jung, die bisherigen Ergebnisse aber nicht unbedingt beruhigend.
Die, die eigentlich nicht da sein sollten
Es ist ein erheblicher Anteil an Kindern, die in den Sog der volatilen Social-Media-Welt gezogen werden. Der „Kinder Medien Monitor“, der solche Mediennutzung in Deutschland im vergangenen Jahr erfasst hat, stellte fest, dass knapp 23 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen Tiktok nutzen.
Bei den Zehn- bis 13-Jährigen sind es schon fast 62 Prozent. Selbst die weniger auf ganz junge Zielgruppen getrimmten Apps von Instagram und Snapchat werden von fast 30 beziehungsweise 25 Prozent der Zehn- bis 13-Jährigen genutzt. Innerhalb von Sekunden klicken sie sich durch eine Bildergalerie, schicken anderen das neueste Video vom Lieblingstiktoker, oder wechseln zwischen den Apps. Das kann Folgen haben.
Denn die Gehirne von Kindern stecken noch mitten in ihrer Entwicklung. Bei bestimmten Arealen dauert das bis Mitte 20. „Je jünger man ist, desto plastischer, also veränderbarer und formbarer ist das Gehirn“, sagt die Neurowissenschaftlerin Charlotte Grosse Wiesmann vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.
Das Hirn muss arbeiten, um trainiert zu werden
Hirnfunktionen bilden sich unter anderem dadurch aus, dass bestimmte Regionen durch Aktivitäten und Lernerfahrungen beansprucht werden. Verbindungen zwischen Nervenzellen werden verstärkt, wenn sie viel genutzt werden. „Nicht genutzte Verbindungen können verkümmern, was das Lernen im späteren Leben erschwert“, so Grosse Wiesmann.
Das bedeutet nicht, dass die Verbindungen zwischen den Nervenzellen abbrechen, sondern dass sie nicht ausreifen: Damit Informationen effektiv von einer Nervenzelle zur nächsten weitergeleitet werden können, sind die Nervenfaserverbindungen von einer Fettschicht umgeben, der sogenannten Myelinschicht. „Im Säuglingsalter gibt es viele Nervenfaserverbindungen, denen die Myelinschicht fehlt. Diese bildet sich in den ersten Jahren bis zum Jugendalter aus“, sagt die Neurowissenschaftlerin.
Die Myelinisierung sei wichtig, damit verschiedene Regionen miteinander Informationen austauschen können. „Am Ende reifen aber nur jene Nervenverbindungen aus, bekommen also die Myelinschicht, die viel genutzt werden.“ Vernachlässigte Nervenfaserverbindungen können daher Informationen im Gehirn kaum weiterleiten.
61,5 Prozent der Zehn- bis 13-Jährigen in Deutschland nutzen Tiktok, laut des Kinder Medien Monitors von 2023. Nach einigen Angaben hat die Plattform allein in Deutschland 20,9 Millionen Nutzer. Wenn Kinder also Tiktok-Videos, Snapchat-Stories und Instagram-Livestreams anschauen, trainieren sie die Nervenverbindungen, die sie für Bildschirmaktivitäten brauchen.
„Wenn sich die Kinder beispielsweise deswegen weniger bewegen, entwickeln sich die Hirnregionen für Motorik und Bewegungskoordination entsprechend schlechter.“ Ließe sich das nicht leicht nachholen? Nur bedingt, sagt Grosse Wiesmann. Es gebe bestimmte Entwicklungsmeilensteine im Kindesalter, die erreicht werden sollten. Im Erwachsenenalter könne das nicht im gleichen Maß nachgeholt werden, sagt Grosse Wiesmann.
Nutzen der Sinnesorgane funktioniert analog anders
Fähigkeiten wie das Lesen von Texten und das Verstehen ihrer Logik, das Schreiben und auch das Rechnen entwickeln sich wesentlich im Grundschulalter, also zwischen sechs und zwölf Jahren, so die Neurowissenschaftlerin. „Auch die soziale Kognition, also sich in andere hineinversetzen zu können und mit anderen umgehen zu können, entwickelt sich vom frühen Jugendalter bis ins Erwachsenenalter.“
Grosse Wiesmann vermutet, dass sich diese Fähigkeiten verändern, wenn Kinder und Jugendliche viel Zeit vor sozialen Medien verbringen. Denn für deren Entwicklung müssen Menschen ihre Sinnesorgane ganz anders einsetzten. Das könne digital nicht ersetzt werden: „Wir wissen aus Studien, dass zum Beispiel das Schreiben mit der Hand die Schreibfähigkeit mehr fördert als das Schreiben am Handy oder am Computer.“
Forscher konnten in Versuchen und mit Hirnscans nachweisen, dass die Sprachentwicklung von Kindern durch digitale Medien leidet. Dafür testeten sie die geistigen Fähigkeiten von Vorschulkindern. In den Studien stelle sich heraus, dass die intensive Nutzung digitaler Medien mit Veränderungen in der weißen Hirnsubstanz einhergeht: Diese Nervenverbindungen zwischen Hirnarealen, die für „Sprache“ wichtig sind, waren weniger ausgreift. Doch diese Leitungsbahnen sind essenziell, um grammatikalisch korrektes Sprechen zu lernen und Gesprochenes zu verstehen.
Tiktok-Videos „fesseln“ den präfrontalen Cortex
Entscheidend ist dabei wohl auch der Einfluss sozialer Medien auf die Verbindungen, die zwischen dem präfrontalen Cortex und anderen Hirnregionen bestehen. „Der präfrontale Cortex entwickelt sich bis zum Alter von 20 Jahren und hilft uns, die Wahrnehmung unserer Umwelt zu organisieren und zu selektieren. Grob gesagt reguliert er unsere Fähigkeit, Informationen zu filtern, also Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, und auf eine Wahrnehmung kontrolliert zu reagieren“, erklärt Grosse Wiesmann. Ein unterentwickelter präfrontaler Kortex trifft weniger gute Entscheidungen und hat auch mehr Probleme, die Aufmerksamkeit lange genug aufrechtzuerhalten, zum Beispiel beim Lesen eines Textes.
Hier könnte ein weiteres Problem liegen: Immer mehr Studien zeigen, dass sich der präfrontale Cortex bei jungen Menschen, die häufig soziale Medien nutzen, strukturell verändert. Aufgrund der essenziellen Rolle dieses Hirnareals vermuten Forschende, dass so unter anderem auch die Fähigkeit verloren gehen könnte, sich lange zu konzentrieren.
Auch nichts anderes als das Fernsehen von früher?
An dieser Stelle wäre die Frage berechtigt, warum viele Erwachsene von heute offenbar nicht mit allzu verkümmerten Gehirnen durchs Leben gehen, obwohl auch sie in ihrer Kindheit täglich oft stundenlang vor dem Fernseher saßen. Ob Röhrenfernseher oder iPhone: Zu viel Bildschirmzeit hält Kinder davon ab, die reale Welt zu erfahren. Doch es gibt offenbar einen für das Gehirn entscheidenden Unterschied zwischen Fernsehen und sozialen Medien.
Letztere konfrontieren Nutzer mit Inhalten, die ein Algorithmus für sie ausgesucht hat, sodass die ausgespielten Videos und Fotos auf die Interessen der User personalisiert sind. Das ist bei Kinderfilmen und -serien im linearen Fernsehen nicht der Fall. Genau das könnte aber entscheidend sein: Chinesische Forscher haben gezeigt, dass der Thalamus und der präfrontale Cortex von Studierenden beim Betrachten von personalisierten Videos wie auf Tiktok viel stärker aktiviert werden als beim Betrachten „belangloser“ Filme, wie man sie aus dem Fernsehen kennt.
Die Auswirkungen von Social Media müssen aber nicht nur negativ sein. „Ich kann mir gut vorstellen, dass Kinder, die gut mit digitalen Medien umgehen können, zum Beispiel auch schneller im Netz nach Informationen suchen. Vielleicht sind sie dann auch besonders schnell bei der Erledigung ihrer Hausaufgaben“, spekuliert Grosse Wiesmann. Schließlich lernen Kinder auch neue Verhaltensweisen durch ihre Aktivität auf sozialen Netzwerken. Und der Umgang mit digitalen Medien wird für heute Aufwachsende zunehmend zu einer unverzichtbaren Kompetenz. Die wissenschaftlich nach wie vor offene Frage ist nur, wie hoch die Kosten dafür sind.
Dieser Artikel erschien zuerst im Tagesspiegel in Berlin.