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Spätes GlückWie Ingrid und Karlheinz am Ende die große Liebe fanden

Lesezeit 6 Minuten
Zwei Rentner sitzen auf einer Bank.

Eine liebevolle Partnerschaft im hohen Alter zu erleben, ist ein Geschenk. Ganz gleich, wann man sie gefunden hat. 

Unerwartetes Glück: Ingrid und Karlheinz fanden sich im Seniorenstift. Ihre bitter-süße Geschichte zeigt, dass es für Zuneigung nie zu spät ist.

Es hat nicht viel dafür gesprochen, dass es so enden würde. Eigentlich gar nichts. Aber nun ist da auf dem Waldfriedhof in Bad Tölz eine Grabstelle mit einem Stein, auf dem neben einem Namen mit Todesdaten noch ein zweiter steht, der noch kein Todesdatum hat. Der noch wartet. Sodass hier irgendwann zwei liegen werden, die einander eine große Liebe wurden, und das kurz vor Toresschluss. Ingrid und Karlheinz haben sich im Speisesaal von St. Josef kennengelernt, einem Wohnstift für alte und pflegebedürftige Menschen, untergebracht in einem großen, gelb gemalerten Haus mit vielen Fenstern und zwei Glockentürmen in München-Sendling. Er hat sich zu ihr gesetzt und ist fortan an ihrer Seite geblieben. 14 Jahre jünger als sie war er, und anders als sie war er mit Mitte 60 und als Rentner gern nach St. Josef gezogen. Die Wohnung, in der er vorher lebte, war in einem Hochhaus an einer mehrspurigen Straße, dauernd das „Tatütata“ der Feuerwehr- und Polizeiautos, ein schrecklicher Lärm.

Er war ledig geblieben – genauso wie sie

Das passte so gar nicht zu einem wie Karlheinz, der sanft und leise spricht. Der gern „wunderbar“ sagt oder „großartig“, aber nicht prahlerisch, sondern zum Lob des Beschriebenen. Der bescheiden und ohne große Ansprüche zu formulieren, wertschätzte, was ihm im Leben widerfuhr: die Kindheit im Allgäu, die lieben Eltern, mittlerweile tot, der liebe Bruder, viel zu früh gestorben, leider. Karlheinz ist immer ledig geblieben, aber sein Leben hat ihm viel Freude gegeben. 45 Jahre lang hat er als städtisch beschäftigter Gärtner, Lieblingspflanze Rose, in einem Klostergarten gearbeitet. 2010 hat er aufgehört. „Die Schwestern wollten mich gar nicht gehen lassen“, sagt er. Sie mochten ihn, den immer freundlichen Mann, der keine Eile zu kennen scheint, ein Koloss aber auch, erst half ihm ein Stock beim Gehen, dann der Rollator. Ingrid dagegen war schon 80 Jahre alt, als sie 2015 nach St. Josef kam. Und sie kam nur, weil es allein nicht mehr ging, weil sie den Weg nach Hause nicht mehr fand, ihr Gedächtnis verlor, dement wurde. Sie wollte nicht dorthin, nicht raus aus einer Wohngemeinschaft des christlichen CVJM-Vereins, die ihr lange liebe Heimat gewesen war. Es waren ihre Geschwister, die sie drängten. Und das waren viele. Ingrid hatte einen Zwillingsbruder, sie beide waren die ältesten Geschwister von insgesamt neun. Drei Mädchen, sechs Jungs. Es war ein lutherisch-frommer, karger Haushalt, in dem viel gebetet wurde, viel gearbeitet und wenig geherzt, schon gar nicht die ältesten Kinder, die als Erste mithelfen mussten. Wie alle Mädchen aus der Familie wurde auch Ingrid Sozialarbeiterin, wie Karlheinz war sie bei der Stadt München beschäftigt.

Wie er hat auch sie nicht geheiratet, was bei ihrer Erziehung gleichbedeutend war mit: dass es in ihrem Leben keine Männer gab, denn das hätte sich nicht gehört. So blieb sie zeitlebens fromm, aber auch still und ernst. Erst mit Karlheinz änderte sich das. Einer ihrer Brüder erzählt, wie er sie im St. Josef besuchte und dass sie gestrahlt habe. Voller Stolz habe sie den neuen Freund präsentiert. Die vielleicht erste Person in ihrem Leben, die ihr zärtlich und liebevoll gemeint übers Haar strich oder die Hand tätschelte. Man muss sich das vorstellen. Ingrid sei plötzlich so viel fröhlicher gewesen, als man sie je erlebte, sagt der Bruder. Der Heimleitung blieb die Traulichkeit, die sich da vor allem zu Essenszeiten im Speisesaal zeigte, nicht verborgen, und man sorgte dafür, dass Karlheinz ein Zimmer neben dem von Ingrid bekam. Fortan gab es ein Ritual. Karlheinz stand früh auf, entriegelte die Tür, legte sich wieder hin und döste noch ein bisschen. Ingrid, die früh wach war, kam dann rüber und setzte sich auf die Bettkante und dann weckte sie ihn, holte sie ihn mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ in den Tag. Dass Ingrid die Welt um sich herum, die Geschwister vergaß, musste Karlheinz nicht bemerken. Ihn hat sie immer erkannt. Und hat mit ihm Neues angefangen. Sie seien zusammen zu Malkursen gegangen, erzählt Karlheinz. Die fanden im Speisesaal statt, geleitet von einer Künstlerin, einer „wunderbaren Künstlerin“, in den Worten von Karlheinz. Sie bekamen große Papierbögen, die sie zuerst mit Grundierfarbe bemalten, dann haben sie Motive aus einem Kalender vorgezeichnet – Meer und Palmen, Berge, Blumen – und später mit Acrylfarbe ausgemalt. „Es war erstaunlich, wie schnell die Ingrid das gelernt hat“, sagt Karlheinz, als er davon erzählt und klingt schon wieder erstaunt. Drei von Ingrids Bildern hängen gerahmt in seinem Zimmer. Sitzgymnastik haben sie auch mitgemacht. Ein paar Übungen gegen das völlige Einrosten zu Musik. Mit Musik gehe alles besser, sagt Karlheinz. Was wohl auch für Gesellschaft gilt. Aber dann ist Ingrid eines Tages aus dem Mittagsschlaf nicht mehr aufgewacht.

Er blieb zurück – mit einer neuen Familie

Als die Sanitäter sie in einem Transportsarg aus ihrem Zimmer holten, habe er auf dem Flur gesessen und geweint, sagt Karlheinz. Die Ingrid, seine tägliche Begleitung, die Frau, die morgens auf der Bettkante saß und guten Morgen sagte, war tot, und er blieb zurück, mit dem Schmerz des Verlusts. Und war wieder allein. Womöglich viel alleiner als je zuvor, musste er doch fürchten, dass er viele Menschen mehr verlieren würde. Denn mit Ingrid waren auch ihre sieben noch lebenden Geschwister in sein Leben gekommen, deren Kinder und Enkel. Statt gar keine hatte er über Ingrid plötzlich ganz viele Familienmitgliedernamen, die er sich merken musste. Galten Verwandtschaftsbesuche plötzlich auch ihm. Einmal war Ingrids Zwillingsbruder zu ihnen gekommen, da wollten sie einen Ausflug zum Kloster Andechs machen. Wunderbar sei es dort, sagt Karlheinz. Aber dann war dort am Berg der Aufstieg so steil, dass er es trotz Gehstock nicht geschafft habe. „Das geht nicht“, habe die Ingrid da beschlossen. Ganz fürsorglich und liebevoll. Und da sind sie alle zurück ins Auto und haben ein anderes Kloster besucht. So ein wunderbarer Tag sei das gewesen, sagt Karlheinz, eine Erinnerung, die ihm für immer teuer bleiben werde. Ein anderer Ausflug hat ihn an Ingrids Seite in die Wieskirche im Pfaffenwinkel geführt, eine prächtige katholische Wallfahrtskirche im Rokokostil, Welterbe seit 1983, deren Patron der Heilige Josef ist, wie der Name des Altenheims.

Noch so ein wunderbarer Tag, den er nie vergessen will. So hat die zunehmend orientierungslose Ingrid ihrem Karlheinz also Wege in die Welt gezeigt und ihm die Familie nahegebracht, die sie zu vergessen begann. Und ihre Geschwister waren sehr erleichtert, dass er der Schwester, die nach einem Leben, dessen brave Dienstbarkeit sich kaum nachvollziehen lässt, gegen ihren Willen nach St. Josef ziehen musste und dort erst viel weinte, die Einsamkeit genommen hat. Dass sie plötzlich heiter geworden war. Darum beschlossen sie, dass der Mann, der das möglich gemacht hat, nach Ingrids Tod in ihrer Mitte bleiben solle, wenn er wolle. Sie berieten nur kurz, waren schnell einig und boten ihm an, weiter Teil ihrer Familie zu sein. Was ihn zu Tränen rührte. Denn natürlich wollte er. „Von einem Tag auf den anderen sieben Geschwister, das müsse ihm erst mal jemand nachmachen, hat er einmal gesagt“, erzählt der Berliner Bruder. So kam dann sein Name auf den Grabstein in Bad Tölz, wo Ingrid schon ist. Und irgendwann liegen dort dann zwei Menschen, die zeitlebens höchst bescheiden blieben, und dafür zu guter Letzt reich belohnt wurden. Und das ist wohl mehr als gerecht.

Dieser Artikel erschien zuerst im „Tagesspiegel“ in Berlin.