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Reißleine ziehenVon der Last, den geliebten Menschen nicht mehr pflegen zu können

Lesezeit 6 Minuten
Wenn der Mensch, den man liebt, an Demenz erkrankt, ist nach der Diagnose nichts mehr wie zuvor.

Wenn der Mensch, den man liebt, an Demenz erkrankt, ist nach der Diagnose nichts mehr wie zuvor.

Als Parkinson und Demenz Wolfgangs Leben verändert, wird aus seiner Frau eine Pflegerin. Als sie selbst an ihre Grenzen gerät, trifft sie eine schwere Entscheidung.

Wenn Elisabeth Schulz (Namen von der Redaktion geändert) mit ihrem Mann Wolfgang im Auto durch die ostfriesische Landschaft fährt, dann schläft er sanft auf dem Beifahrersitz. Für die 66-Jährige sind das friedliche Momente. „Das war ein schöner Tag“, wird auch ihr Mann später sagen, wenn sie ihn zurück ins Pflegeheim bringt. Dort lebt Wolfgang Schulz seit zwei Jahren auf der Etage für Menschen mit demenziellen Veränderungen. Der Auricher leidet an Parkinson in Kombination mit Demenz.

Früher saß er noch selbst am Steuer, auf Fahrten in den Urlaub oder zu Freunden. Doch dann kam die Krankheit und mit ihr irgendwann die Einsicht: Autofahren, das geht nicht mehr. „Mein Mann konnte zwar lange Zeit noch das Auto bedienen, kuppeln und schalten, aber er hatte die Orientierung verloren, wusste die einfachsten und gewohnten Wege nicht mehr“, beschreibt Elisabeth Schulz den Zeitpunkt, als sie ihrem Mann den Autoschlüssel abnehmen musste. Das war Jahre nach der erschreckenden Diagnose, die für Betroffene und ihre Angehörigen oft alles verändert.

Dem Kopfarbeiter gehen die Gedanken verloren

Wolfgang Schulz ist Anfang 60, als er und seine Frau merken, dass etwas nicht stimmt. Er, der als Bauingenieur sein Leben lang mit Zahlen hantiert und mit dem Kopf gearbeitet hat, erkennt seine eigenen Aufzeichnungen, seine Formeln nicht mehr. Es fällt ihm zunehmend schwer, sich zeitlich und örtlich zu orientieren. Die Diagnose des Neurologen ist niederschmetternd: Parkinson in Kombination mit einer seltenen Form der Demenz. Wolfgang Schulz ahnt in diesem Moment, was auf ihn zukommt, beide Eltern wurden im Alter ebenfalls dement.

„Für meinen Mann war es ein besonders harter Prozess, seine Krankheit zu akzeptieren“, sagt Elisabeth Schulz. Denn: Im Gegensatz zur Alzheimer-Demenz, bei der oftmals die gesamten kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen abnehmen, beschränkt sich das Vergessen bei Wolfgang Schulz nur auf bestimmte Bereiche des Gehirns. „Er ist zeitlich und räumlich desorientiert“, beschreibt seine Frau. Während er Personen und Namen kennt und Gespräche führen kann, erkennt er auf der Uhr zwar, dass es zwei Uhr ist, aber er kann nicht einordnen, ob es zwei Uhr mittags oder zwei Uhr nachts ist.

Das Gefühl für Tageszeiten, für Monate und Tage ist weg. Gemeinsam stellt sich das Paar der Krankheit, nach der Frühpensionierung beginnt der Alltag mit der Demenz. Vor allem der Verlust für die räumliche Vorstellung macht der Ehefrau zu schaffen. Wenn Wolfgang Schulz nachts aufwacht und zur Toilette muss, findet er das Bad nicht mehr.

Was im eigenen Haus schwierig ist, wird im Urlaub zum Albtraum. Bei einem ihrer letzten gemeinsamen Hotelaufenthalte verlässt Wolfgang nachts auf der Suche nach der Toilette unbemerkt das Zimmer, findet nicht mehr zurück, irrt über den Flur, klopft an fremde Türen. Schließlich bringen die Hotelangestellten ihn zurück zu seiner Frau. Heute huscht Elisabeth Schulz beim Gedanken an das Erlebnis ein Schmunzeln über das Gesicht. Damals, in dieser Nacht im Hotel, muss sich das anders angefühlt haben.

Angehörige im dauerhaften Aufmerksamkeitsmodus

Parallel zum fortschreitenden Vergessen schrumpft der Alltag des Paares langsam in sich zusammen, konzentriert sich immer mehr auf das Leben in den eigenen vier Wänden. Wolfgang Schulz benötigt zunehmend Aufmerksamkeit, Achtsamkeit. Seine Frau hat Angst, ihn alleine zu Hause zu lassen. „Man war irgendwann in einem 24/7-Aufmerksamkeitsmodus.“

Und so verändert sich im Laufe der Jahre ihre Rolle – aus der Ehefrau wird eine Pflegerin, eine Therapeutin. Sie übernimmt nun auch die Aufgaben, die jahrzehntelang ihr Mann erledigt hat: Papierkram, Überweisungen, Termine. Eine Herausforderung für die Auricherin, die einen großen Freundeskreis hat, in Vereinen aktiv ist.

Pflegende können selbst krank werden

„Ich hatte irgendwann das Gefühl, gar kein eigenes Leben mehr zu haben“, erzählt sie. Das Paar nimmt Unterstützung in Anspruch. Alltagsbegleiter kommen ins Haus, damit Elisabeth Schulz mal eine Auszeit bekommt. Wolfgang Schulz geht in die Tagespflege. Doch der Druck bei seiner Frau steigt, sie funktioniert, sie kümmert sich und rutscht dabei langsam, aber sicher in die Überlastung. Signale, die ihr Körper im Hintergrund sendet, überhört sie.

Ein Problem, das viele pflegende Angehörige kennen. Eines Tages ist das Ende der Belastbarkeit erreicht: Elisabeth Schulz wird selbst krank. „So wie damals habe ich mich noch nie gefühlt, ich hatte einfach keine Kraft mehr und das Gefühl, dass ich nicht mehr lange lebe“, beschreibt sie ihren Zustand. Während sie in einer psychosomatischen Klinik aufgepäppelt wird, kommt ihr Mann zur Kurzzeitpflege in ein Auricher Seniorenheim.

Was beide zu dem Zeitpunkt nicht wissen: Er wird dort bleiben. Eine Entscheidung, die Elisabeth Schulz alles andere als leicht fällt. „Es ist sehr schmerzlich, sich einzugestehen, dass man den Menschen, mit dem man verheiratet ist und mit dem man so viele Jahre zusammengelebt hat, nicht mehr versorgen kann“, sagt sie rückblickend. Unterstützung für ihren Entschluss erfährt sie in dieser Zeit von ihren Kindern und dem nächsten Umfeld. Doch es gibt auch andere Stimmen. „Wolfgang will doch von Dir betreut werden, nicht von jemand anderem“, hört sie. Worte, die verletzen und sie verunsichern.

„Es ist sowieso schon unglaublich schwer zu demjenigen, der sich an dich klammert, zu sagen ,Ich halte diese Umklammerung nicht aus’“, beschreibt Schulz den Zwiespalt, in den sie immer wieder gerät. Erschwert wird ihre Situation dadurch, dass ihr Mann gerade zu Beginn der Erkrankung versucht hat, auffällige Situationen zu vermeiden, Symptome zu überspielen. Das habe dafür gesorgt, dass Außenstehende seine Einschränkungen und die damit verbundene Belastung nicht wahrnehmen konnten oder wollten, beschreibt Elisabeth Schulz.

Ihr ist es wichtig, sich zu erklären. „Dieses den Angehörigen nicht glauben zu wollen, weil es doch nicht sein kann, dass der Mensch, der so lebensfroh und leistungsstark gewesen ist, jetzt nicht mehr können soll, das setzt mir sehr zu“, sagt sie. Vor allem, weil sie alle ihre möglichen Kräfte eingesetzt habe.

Manchmal reicht die Kraft nicht

Heute, zwei Jahre später, lebt Wolfgang Schulz auf der Demenzstation des Heimes, hat seine Situation akzeptiert, auch wenn es ihm schwerfällt. Mit seiner besonderen Form der Demenz unterscheidet er sich deutlich von vielen anderen Bewohnern, die an der Alzheimer-Demenz leiden. Ihm fehlen Gespräche, zu denen seine Mitbewohner oft nicht mehr in der Lage sind. Seine Frau besucht ihn oft, holt ihn ab zu Ausflügen, übernimmt die Arztbesuche.

Es ist ihr wichtig, Zeit mit ihrem Mann zu verbringen. Nun fühlt sie sich weniger als Therapeutin und Pflegerin, sondern wieder mehr wie eine Ehefrau und Freundin. Und dennoch bleibt das schlechte Gewissen. „Dieses schlechte Gewissen sagt: Hätte ich doch nur mehr Kraft“, sagt Elisabeth Schulz. Aber damit müsse sie leben. „Die Kraft reicht eben einfach nicht.“

Dieser Artikel erschien zuerst bei den „Ostfriesischen Nachrichten“ in Aurich.