Stress wegen MailsWas kann man gegen den E-Mail-Terror tun?

Viele Beschäftigte fürchte die aufgestaute E-Mail-Flut - und checken ihre Nachrichten auch deshalb im Minutentakt.
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Wer fürchtet ihn nicht – den ersten Blick auf die aufgestaute E-Mail-Flut: Die Augen irren über eine Vielzahl von Betreffzeilen, eine Welle von Informationen schlägt über dem Kopf zusammen. Was könnte wichtig sein? Was ist Spam? Und wer will blitzschnell eine Antwort, am besten gestern?
„Der Overload hat üble Folgen: Die stets wachsende E-Mail-Menge macht es unmöglich, sich vernünftig mit diesen Informationen zu befassen“, sagt Danny Verdam, Spezialist für „Gesundheitsprozessberatung“. Der Diplom-Betriebswirt stellt fest: „Viele Mitarbeiter haben auf dem Heimweg und zu Hause das Gefühl, ‚etwas nicht erledigt zu haben‘“. Von Erholung könne da keine Rede sein.
Das hat den VW-Betriebsrat auf den Plan gerufen. Er setzte durch, dass nach Feierabend für 1100 Mitarbeiter gilt: keine E-Mails mehr auf dem Blackberry. Wenn die Gleitzeit 30 Minuten vorbei ist, wird die entsprechende Funktion abgeschaltet. Und der Server nimmt seinen Dienst erst wieder auf, wenn der nächste Arbeitstag gekommen ist. Verdam sieht in diesen Regeln einen ersten Schritt: „Wir brauchen klar definierte Pausen. Auch Leistungssportler funktionieren nicht, wenn sie ständig einer Höchstbelastung ausgesetzt sind.“
„Wir produzieren riesige Datenmengen“
Die Idee des VW-Betriebsrats stößt auch auf Kritik: „Was auf den ersten Blick aussieht wie eine fürsorgliche Maßnahme für gestresste und Burn-out gefährdete Mitarbeiter, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Stechkarten-Denke aus der vordigitalen Zeit“, schreibt Stefan Winterbauer auf meedia.de. Sein Argument: Der Betriebsrat schaffe im VW-Konzern eine „Zwei-Klassen-Kommunikationsgesellschaft“. „Während die einen up-to-date sind, dürfen die anderen in ihrer Betriebsrats-Blase nur zu festgelegten Geschäftszeiten kommunizieren.“
Und im Netz wird über den VW-Betriebsrat viel Spott ausgegossen: „Das erinnert sehr an die lustige Geschichte (…), wo bei der Einführung der E-Loks auf Druck der Gewerkschaften noch jahrelang Heizer mitgefahren sind.“ Doch greift diese Analogie wirklich? Thierry Breton sieht das ganz anders: „Wir produzieren riesige Datenmengen, die unsere Arbeitsumgebung buchstäblich überwuchern und auch im privaten Bereich bereits Überhand nehmen.“ Breton ist CEO von Atos, einem weltweiten Anbieter von IT-Dienstleistungen. 2011 betrug der Umsatz von Atos rund 8,5 Milliarden Euro, die 75.000 Mitarbeiter in 48 Ländern erwirtschaftet haben.
Krank durch die extreme Mail-Flut
Wer ein solches Unternehmen leitet, sollte in der E-Mail-Diskussion ernst genommen werden. Denn Breton erkennt eine Parallele zur Industrialisierung: „Ähnliches geschah nach der industriellen Revolution, als Unternehmen erste Maßnahmen im Kampf gegen die Umweltverschmutzung trafen.“
Geht es heute um digitale Umweltverschmutzung? Für den betrieblichen Gesundheitsexperten Verdam ist klar: E-Mails können krank machen, genauso wie Feinstaub die Lunge angreift: „Die ständige Erreichbarkeit lässt keine kurzfristige Regeneration zu, geschweige denn eine echte Erholung.“ Die Zahl der stressbedingten Krankheiten würde ständig steigen, „da viele Mitarbeiter Angst um ihren Arbeitsplatz haben, und sich verpflichtet fühlen, überall erreichbar zu sein.“
Wissenschaftler haben in Großbritannien erstaunliche Zahlen zum Umgang mit E-Mails ermittelt: 32 Tage im Jahr ist jeder fünfte Arbeitnehmer damit beschäftigt, seine E-Mails zu verwalten.
25 Prozent eines gewöhnlichen Arbeitstages – so hoch ist der zeitliche Aufwand, um in einem Büro E-Mails zu lesen, zu schreiben und zu verwalten.
Manager leiden besonders unter der Mail-Schwemme: 48 Prozent der Beschäftigten in der Führungsebene empfinden es als Belastung, immer zeitnah auf E-Mails zu reagieren.
Genau eine Minute – so lange dauert es, bis ein Mitarbeiter einen Gedankengang fortsetzt, den eine neue E-Mail unterbrochen hat. Wer seinen E-Mail-Eingang alle fünf Minuten prüft, verbringt damit pro Woche 8,5 Stunden.
Quelle: „Atos“, „Smarter arbeiten mit Zero E-Mail“
Doch der Atos-CEO von Atos will eine „Kehrtwende“: „Zero Email“ heißt ein Programm, mit dem sein Unternehmen den internen E-Mail-Verkehr völlig abstellen will. „Unser erster Schritt war es, eine E-Mail-Etikette einzuführen“, erklärt der Pressesprecher von Atos, Stefan Pieper. Unter anderem ging es darum, unnötige CC-Kopien einzudämmen. Der Grund: Die Kopierfunktion trägt erheblich dazu bei, die Postfächer vieler Kollegen zu verstopfen. Die vielfach verschickten Kopien verlangen nach Aufmerksamkeit – und reduzieren die Produktivität. Gerade bei Chefs, die immer alles in CC-Kopie mitlesen wollen. Die Konsequenz: lahm gelegte Unternehmen.
Eine weitere Regel lautet: „Öffne eine E-Mail nur einmal!“ Pieper: „Dann bearbeite ich die Mail, leite sie weiter oder schreibe einen Punkt auf meine to-do-Liste.“ So werden wichtige Informationen im Postfach nicht weggespült. Der Effekt dieser neuen Regeln: Das E-Mail-Aufkommen bei Atos sank um rund 30 Prozent.
Die Arbeit anders organisieren
Hinzu kommt: „E-Mails sind nicht mehr das richtige Instrument für wissensintensive Unternehmen“, so Pieper. Atos betrachtet E-Mails als eine „Art Aktenschrank“ – ein „insolierter Datenspeicher, der wichtige Informationen enthält, auf die Content-Management-Systeme nicht zugreifen können.“ E-Mails seien ein „Fließband“, „an dem viele Menschen arbeiten, um eine Aufgabe zu erledigen.“ Und wie das Fließband in der Industrie an Bedeutung verloren hat, so sind heute E-Mails ein Auslauf-Modell der Wissensgesellschaft.
„Wir haben bereits eine Reihe von Technologien, um Arbeit gemeinsam zu organisieren“, sagt der Atos-Pressesprecher. Zum Beispiel: Wikis für Prozessbeschreibungen, Video-Konferenzen und Chat-Systeme sowie Plattformen, damit mehrere Mitarbeiter an denselben Dateien arbeiten. Ebenfalls in der Auswahl: Blogs, Instant Messaging und Social Media. Sowie eine ganz schlichte Lösung: der kurze Weg zum Kollegen im Nachbarbüro!
Warum gelten E-Mails als Technik der digitalen Steinzeit? Weil sich moderne Netzwerke horizontal organisieren. Pieper nennt ein Beispiel: Hat ein Kunde für ein Projekt das Pflichtenheft formuliert, ist es nötig, im Unternehmen die richtigen Experten zusammenzutrommeln. „Da ist Expertise statt Hierarchie gefragt“, so der Pressesprecher, „wir müssen Wissen immer stärker vernetzen; E-Mails fördern aber in der Tendenz hierarchische Strukturen.“ Erst wenn alle übergeordneten Stellen per CC-Kopie verständigt sind, kommt es zu einer Entscheidung – und schon kann das Projekt zeitlich in Schieflage geraten.
Mails verursachen auch viel Chaos
Das Stichwort lautet: flache Hierarchien. Dazu entwickelt Atos auch ein „Enterprise Social Network“ – ein „Facebook für Unternehmen“, wie es Pieper beschreibt. So lassen sich Kontakte organisieren, Communitys einrichten und gezielt Informationen verbreiten. Die Zeit der Schrotschüsse wäre vorbei, die „Inflation von Informationen“ würde eingedämmt.
Wie gefährlich E-Mails sein können, zeigt auch diese Geschichte: 2012 feuerte der Investmentzweig der britischen Versicherung Aviva 1300 Angestellte – per E-Mail und auf einen Schlag. Das traf die gesamte Belegschaft, doch gemeint war nur ein Mitarbeiter. Die Ursache für den Irrläufer: ein kleiner Schreibfehler, der den kollektiven Rauswurf auslöste.